: Dem Tod kein Reich
Der junge Thomas verliebte sich in Caitlin auf der Stelle, obwohl er kaum mehr stehen konnte. „Dylan sagte mir gleich am ersten Abend, als wir uns kennenlernten, daß er mich liebe, und obwohl ich vorher schon andere Liebhaber gehabt hatte, war mir dies noch nie von einem anderen Mann gesagt worden. [...] Wir wurden miteinander in einem Londoner Pub bekannt gemacht, im Wheatsheaf, das damals Fitzrovia hieß.“
In einem Pub fing es an, und die Kneipe, genauer: der Tresen, sollte für eine lange Dauer auch der Ort ihrer Beziehung bleiben, von der Schlafstätte einmal abgesehen: während der ganzen Zeit ihrer Ehe „verbrachte er nicht einen einzigen Abend zu Hause, aber auch nicht einen“, und Caitlin pflegte, wenn sie die Kinder zu Bett gebracht hatte, ihm nachzugehen. Sie standen miteinander an der Theke, tranken Bier, spielten Karten, redeten, und meistens redete Dylan: er erzählte eine seiner Geschichten, deren Vorrat ohrenscheinlich unerschöpflich war und die alle ZuhörerInnen mehr amüsierten, als seine Frau, deren Vorrat an Geduld offenbar dem seinen an Anekdoten nicht nachstand. Sie selbst, dem Vergnügen ohne größere Hemmungen zugetan, paßte sich an. „Mich erfüllte der Aufenthalt in den Pubs nie mit der gleichen Begeisterung wie Dylan. Für mich kam dabei nicht viel heraus, außer dem Hochgefühl, ausreichend zu trinken zu haben, was sowieso meistens verhängnisvoll endete. Ich gewöhnte mir das Trinken mühelos an, und es gab Zeiten, in denen ich glaubte, ohne Trinken nicht auskommen zu können, obwohl es mir eigentlich nie als Lebenselixier Vergnügen bereitete, es sei denn, wir waren mit besonderen Freunden zusammen. Gegen Ende des Abends, wenn ich einige Drinks zu mir genommen hatte, stellte ich alles mögliche an. Ich zog mich aus, sprang auf den Tisch und vollführte verrückte Tänze. Dylan brachte manchmal Leute mit ins Boat House, nachdem die Pubs geschlossen hatten, von denen jeder schon ziemlich benebelt war. Ich warf mich gern von der Hafenmauer in die Flut.“
Caitlin war Tänzerin gewesen, bis sie sich mit Dylan verband: eine junge Frau am Beginn einer Karriere, in der Bohemie und Fleiß bis dato ein solches Gleichgewicht gebildet hatten, daß sie von wenig mehr als Hoffnungen Abschied nehmen mußte, als Heirat und Kinder kamen – ersteres ohne, zweiteres mit ihrem Willen. Daß sie ihren Beruf nicht weiterhin ausüben konnte, hatte mit den Verhältnissen in den dreißiger Jahren in England fast nichts zu tun, um so mehr aber mit den Ansprüchen und Rhythmen des Genies, das sie liebte: der junge Dichter konnte in London nicht wirklich arbeiten, er brauchte eine wenig anspruchsvolle Art von Häuslichkeit auf dem Lande, dessen Attraktionen und Verführungen kontrollierbar blieben. „Dylan suchte jeden Vormittag Ivy Williams im Brown's [der örtlichen Kneipe, ES] auf und arbeitete während des Nachmittags, und ich kümmerte mich ums Haus und um Llewelyn... An den Abenden kehrte Dylan unfehlbar ins Brown's zurück, bezahlte selten, bekam sein Bier meistens auf Pump. [...] Später am Abend, gegen sieben Uhr, gesellte ich mich zu ihm...“ In der Provinz, geschützt gegen die schlimmsten Haltlosigkeiten, entstand das lyrische Werk von Dylan Thomas, aber er „brachte es nicht fertig, sich von London fernzuhalten“. Er schrieb an einen Freund: „Ich bin gerade von drei dunklen Tagen in London zurückgekehrt, der Stadt der ruhelosen Toten. Es ist wirklich eine geisteskranke Stadt & erfüllte mich mit Entsetzen. Jedes Pflaster bohrt sich durch die Schuhsohle bis zur Kopfhaut, und heraus platzt ein behaarter Laternenpfahl. Ich werde Jahre nicht mehr nach London fahren; seine Intellektuellen sind im Kopf so gehetzt, daß nichts drin bleibt; sein Zauber riecht nach Ziege; es gibt keinen Unterschied zwischen gut & schlecht.“
Auch Thomas machte keinen, wenn er dort war: auch wenn er es war, der die Lebensweise seiner Familie bestimmte, auch wenn sich ein kleiner Kosmos von Angehörigen und Bewunderern um ihn drehte wie die Sterne um die Sonne (und aus vielen Sternen sollten Schnuppen werden) – in seiner Selbstwahrnehmung blieb er ein Getriebener, einer, der sein eigenes Leben durchsteht. Manchmal nur eigneten sich die Zeiten, aus seiner Defensivität so etwas wie Charakter zu gestalten, zum Beispiel im Zweiten Weltkrieg: „Was tust Du für Dein Land?“, schrieb der vom Kriegsdienst Befreite in einem Brief: „Ich lasse meins verrotten.“
Sein Land überstand dies besser als er, und Dylan wußte das: in seiner Selbstbeschreibung war er immer einer, der die Vierzig nicht überleben würde, und er tat sein Bestes, um seiner Vorsehung zur Wirklichkeit zu verhelfen. Er ließ sich und seine Umgebung verrotten, mit einer ängstlichen, abseitigen Gleichgültigkeit, die durchaus in Grausamkeit münden konnte. Sowohl die Geburten als auch die Abtreibungen stand seine Frau allein durch, deren zweites Kind, die Tochter Aeron, während eines Luftangriffs auf London zur Welt kam: „Dylan wurde wieder nirgends gesichtet. [...] Als er dann schließlich eine Woche später erschien, kam er hereingeschlurft [ins Krankenhaus, ES] und trug einen alten Morgenrock, der offensichtlich nicht sein eigener war, und Schlafzimmerpantoffeln: er war unrasiert, und seine Haare waren zerwühlt; er sah völlig verwahrlost aus. Dylan hatte eine höllische Woche voller Ausschweifungen durchgemacht, während ich in den Wehen lag.“ Als sie wieder zu Hause war, kam er zum ersten Wiedersehen „wie alle feigen Menschen in Begleitung seiner Kumpane“.
Caitlin trägt diesem Mann nichts nach. Die Ansprüche, die sie an ihn stellt, sind Abweichungen: von jenem Verhaltenskodex, dessen Eckvokabeln Fairneß, Trost, Verläßlichkeit und Treue sind. Sie hütet ihn und seine Begabung, sie erspart sich nicht einmal die Einsicht, daß sie von Dylan etwas will, das sie „nicht bekommen kann, und wenn jemand es einem zu leicht macht, beginnt man ihn geringzuschätzen“ – eine Gefahr, die kaum bestand. Dylan war „ein sehr sanfter Mann. Es gab etwas in ihm, das er nicht beherrschen konnte. [...] Wenn Menschen wie Dylan geboren werden, und das kommt nicht oft vor, bedürfen sie besonderer Obhut, damit es ihnen möglich ist, ihr ganz besonderes Werk zu vollbringen. Es ist ein Wunder, daß Dylan das seine überhaupt zustande gebracht hat, und zwar fast nur aus sich selbst heraus.“
Seine Wehrlosigkeit, sein Charme, seine zärtliche Sanftheit, seine Verantwortungslosigkeit, seine orale Gier, sein Werk: als Caitlin merkt, daß alles mit allem zusammenhängt, ist es für eine Trennung längst zu spät: die beiden lieben sich ja. Als sie sich wehrt, wählt sie, die Tänzerin und Mutter, die Form des Nahkampfs – die jene Symbiose, die nicht gelingen will, auf schmerzhafte Weise weitertreibt. Ursache ihrer späten Auseinandersetzungen ist immer wieder eine Geliebte, die Dylan auf seiner ersten Lesereise in die USA für sich gewann (aber wahrscheinlich war es doch eher umgekehrt): „Bei solchen Streitereien stürzte ich mich auf ihn, so daß er umfiel, packte ihn am Haar und schlug immerfort seinen Kopf gegen den Boden, prügelte ihm fast die Seele aus dem Leib. Er wehrte sich schwach, aber er tat mir keineswegs weh... Die Kämpfe endeten immer mit einer gegenseitigen Umarmung; wir gingen zu Bett, verloren das Bewußtsein, und wenn wir danach wieder zu uns kamen, fanden wir zueinander, zärtlich und entschuldigend.“
Dylan verlor das Bewußtsein fern von Caitlin, auf seiner vierten Reise in die USA, die er gegen ihren Willen machte: sein immergleicher Vorwand war das Geld, von dem dann fast nichts übrigblieb, aber natürlich war seiner Frau bang und schmerzend bewußt, daß er vor ihr und den Kindern floh, aus der selbstgefügten Umklammerung in die narzißtische Umarmung, die das dichterbegeisterte Amerika für ihn bereithielt. Die erste Geliebte, deren Macht Caitlin noch immer fürchtete, war es schon gar nicht mehr, die ihn ins Krankenhaus fuhr: es war die zweite, eine „richtige Beziehung“, die der Ehe gefährlich geworden war. Dylan, leiblich zumindest ruiniert, starb unter ungeklärten Umständen, der Legende nach einer Alkoholwette geschuldet, in einem New Yorker Krankenhaus; Caitlin sah ihn nur noch im Koma. Die immer schonungslose Autobiographin scheidet auch hier die Trauer über das Unveränderbare von der traurigen Erkenntnis. „Ich habe mich während all der Jahre danach nicht des Gedankens erwehren können, daß mein Leben schwerer gewesen wäre, wenn er weitergelebt hätte. [...] Eine Frau und drei Kinder, das war mehr, als er ertragen konnte. Es war keine absichtliche Verantwortungslosigkeit (so wie einige Leute es ihm unterstellt haben); es war einfach so, daß da etwas in seinem Wesen fehlte oder unzureichend ausgebildet war.“
Caitlin Thomas, die 1956 ein hinreißendes Buch unter dem Titel „Leftover Life to Kill“ (deutsch 1989: „Riß im Himmel quer“, s. taz vom 10.9.) veröffentlichte, hat ihre Autobiographie in Gesprächen mit dem Anglisten George Tremlett erarbeitet, 32 Jahre nach Dylan Thomas' Tod. Einen der schönsten Gedichttitel von Thomas zitiert sie in ihrem Buch: „And Death Shall Have No Dominion/ Und dem Tod soll kein Reich mehr bleiben“. Die Vitalität ihrer Erinnerungen verbietet eine Heiligsprechung, und doch stellt man sie sich von einem Licht umgeben vor, das alten Ikonen eignet: ein Glanz, der matt von Kummer ist und doch die lichteste Stelle des Bildes.
Caitlin Thomas, in Zusammenarbeit mit George Tremlett: „Mein Leben mit Dylan Thomas“. Aus dem Englischen von Angela Uthe- Spencker. Beltz/Quadriga Verlag, gebunden, mit Fotos, 287 Seiten, DM 39,80.
Im selben Verlag noch in 98 Exemplaren lieferbar: Caitlin Thomas, „Riß im Himmel quer“. Aus dem Englischen von Sigrid Toth, gebunden, 252 Seiten, DM 39,80.
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