Sekunden vor der Kernschmelze

■ Neue Erkenntnisse über einen Unfall im russischen AKW Poljarnyi Sori

Oslo (taz) – Als der Schrecken überstanden war, meldeten die Behörden einen Störfall der Kategorie „Null“ nach Wien. Nichts geschehen, notierte Anfang Februar die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in den Akten. Tatsächlich hatte die Katastrophe gerade noch vermieden werden können.

Acht Monate später machte sich eine IAEA-Delegation auf die Reise zum Atomkraftwerk Poljarnyi Sori auf der Kola-Halbinsel. Wan Lee Zong aus Japan, IAEA- Inspektor und Leiter der Delegation, faßte für die norwegische Zeitung Nordlys seine Eindrücke von der Inspektion so zusammen: „Ich habe seit Tschernobyl von keiner derart dramatischen Situation in einem AKW gehört.“

Was an jenem zweiten Februar 1993 wirklich geschehen war, läßt sich auch jetzt nur unvollständig rekonstruieren. Wan Lee Zong stützt sich auf die Informationen von Lokaljournalisten, an deren Glaubwürdigkeit jedoch nicht zu zweifeln sei.

Eher schon an den offiziellen Darstellungen: Nach Angaben der russischen Atomkraftinspektion „Gosatomnadsor“ war in einer Orkannacht am zweiten Februar die Stomversorgung des Atomkraftwerks ausgefallen, worauf die vier Reaktoren des Kraftwerks automatisch vom Sicherheitssystem gestoppt worden seien.

Nur war die Gefahr damit nicht gebannt. Im Gegenteil. Nach den neuen IAEA-Informationen führte der Stromausfall in zwei der Reaktoren dazu, daß das Kühlsystem ausfiel und die Notaggregate nicht funktionierten. Die Bedienungsmannschaft war auf einen solchen Zwischenfall nicht vorbereitet, und angeblich habe totales Chaos geherrscht. Erst wenige Sekunden vor einer drohenden Kernschmelze sei es gelungen, die Notaggregate in Gang zu setzen.

Das AKW auf der Kola-Halbinsel verfügt über vier Druckwasserreaktoren mit einer Leistung von je 440 Megawatt, die ältesten sind 21 Jahre alt, die neueren seit elf Jahren in Betrieb.

Außer dem Zwischenfall im Februar mußte es in diesem Jahr noch mindestens zweimal wegen Ventilhavarien im Kühlsystem abgeschaltet werden.

Vom technischen Zustand der Anlage zeigte sich die IAEA-Delegation nunmehr relativ zufrieden. Die russischen Behörden hätten einige der IAEA-Vorschläge zu Nachrüstungsanlagen verwirklicht. Von UmweltschützerInnen wird der technische Zustand wesentlich pessimistischer eingeschätzt.

Der norwegischen Umweltstiftung „Bellona“ ist ein Brief von Vizeminister Gulushko im russischen Sicherheitsministerium vom 6. Juli 1992 zugespielt worden, in welchem der KGB den damaligen Vizestaatsminister Tschernomyrdin ausdrücklich vor der fehlerhaften Konstruktion der AKWs der Baureihe des Kola-Reaktors gewarnt hat.

Zusätzlich wird in dem Brief auf die schlechte Ausbildung des Bedienungspersonals von Poljarnyi Sori hingewiesen. Ein Problem, das der Atomexperte von Bellona, Thomas Nilsen, der am vergangenen Wochenende das AKW besucht hat, aufgefallen ist. Inzwischen fehlt nicht nur die Ausbildung (immerhin war es gelungen, das Schlimmste zu verhindern), dem Personal des Atomkraftwerkes fehlt die Motivation. Da die Schwerindustrie seit längerem den Strom, den sie aus Poljarnyj Sori bezieht, nicht mehr bezahle, hätten auch die AKW- Bediensteten seit zwei Monaten keinen Lohn bekommen, berichtet Nilsen.

„Nimmt man die Unruhe wegen der ausgebliebenen Löhne, die Konstruktions- und Sicherheitsmängel und die fachliche Überforderung des Personals, ist es mehr als wahrscheinlich, daß jeder Zwischenfall dramatische Folgen haben kann.“ Reinhard Wolff