: Brecht überwinden
Jeder Satz ein Pamphlet: Thomas Heise inszeniert Brechts „Brotladen“-Fragment am Berliner Ensemble ■ Von Petra Kohse
Jeder stirbt für sich allein. Aber im Leben hängt einer vom anderen ab. Und wenn im kapitalistischen Leben der ökonomische Niedergang erst mal begonnen hat, dann beißen diejenigen als erste ins Gras, die am wenigsten tief fallen können. Das – in Kürze – ist die Moral von Brechts 1929 verfaßtem „Brotladen“-Fragment. Und noch etwas: Man kann versuchen, sich gegen das Gesetz des Gefressenwerdens zu wehren. Aber es nützt nichts.
Brecht führt die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise vor. Die Banken treiben ihre Zinsen ein, der Brotladenbesitzer Meininger kann die Hypothek auf sein Haus nicht mehr abstottern. Er setzt die Witwe Queck an die Luft, weil die ihre Miete nicht mehr bezahlen kann. Der Chor der Arbeitslosen verfolgt mitfühlend deren Schicksal, immer bemüht, nebenbei wenigstens selbst noch einen Groschen zu verdienen. Der Zeitungsverkäufer Washington Meyer geht auf die Barrikaden. Die noch etwas besitzen, halten zusammen, die Witwe verhungert, die Heilsarmee erweist nur Bärendienste, und Washington Meyer wird erschossen. Die Welt ist schlecht.
Seine Uraufführung erlebte dieses Lehrstück erst 1967 in der Regie von Manfred Karge und Matthias Langhoff am Berliner Ensemble. Nach einer Off-Inszenierung des „Theater Zentrifuge“ 1975 wird der holzschnittartige Text jetzt zum drittenmal in Berlin gezeigt, abermals im Brecht-Palais am Schiffbauerdamm. Die Regie wurde Thomas Heise übertragen, der erst vor einem halben Jahr mit seinem Film über rechtsradikale Jugendliche („Stau – jetzt geht's los“) Aufsehen erregte. Er setzte auf die bedauerliche Zeitlosigkeit der Brechtschen Aussage und ironisiert die dichterische Dürre der Parabel, indem er den erforderlichen kantig-vorzeigenden Brecht- Stil lustvoll überzeichnet.
Heise hat szenische Phantasie. Mit nur einem Klettergerüst als Bühnenausstattung und spärlichen Requisiten produziert er mit etwa zwei Dutzend spielfreudigen Darstellern in mehr als doppelt so vielen Rollen (und unterstützt von einer Band) eine geradezu turnerisch-akkurate, zuweilen sehr komisch überdeutliche Aufführung. Gewalt von oben nach unten wird verurteilt, Gewalt von unten nach oben erklärt und gleichzeitig als aussichtslos vorgezeigt. Jeder Satz ein Pamphlet. Jede Geste eine Anklage. Jede Figur ein Klischee.
Nur wenige gestandene Schauspieler gehören zum Ensemble. Die meisten exponierten Rollen sind mit Schauspielstudenten besetzt, von denen einige bereits mit einer „Mutter Courage“-Inszenierung von Carmen-Maja Antoni am Hause gastierten und die mit dieser Produktion durchaus als Entdeckungen gelten können: Thomas Wendrich als Zeitungsverkäufer, Stephan Grossmann als Bankier und Christoph Müller als Brotladenbesitzer. Zum Nachteil der Gesamtleistung wirkt sich allerdings aus, daß Heise auch etliche Laien verpflichtet hat. Solch spröder Text verlangt Ausdruckskraft und Genauigkeit – das kann von ihnen nicht erwartet werden.
Die Aufführung ist sehenswert und setzt im Spielplan des Berliner Ensembles nach Heiner Müllers geradezu autistischer, wie in Zement gegossener Inszenierung seiner Brecht/Müller-Collage „Duell Traktor Fatzer“ einen angenehm unambitionösen Kontrapunkt. Vor allem eines wurde klar: Das Brecht-Erbe mit Brecht-Inszenierungen anzutreten — worauf der Geist des Hauses ja ausgerichtet ist — führt in eine Sackgasse. Man kann das einmal so liebevoll ironisch machen wie Heise. Ein zweites Mal nicht.
Aufklärung mit dem Holzhammer tut nicht mehr not. Auch und gerade an einem Theater, das sozial und politisch engagiert sein will, müssen Ausdrucksformen entwickelt werden, die die vom Dauerlamento über die Schlechtigkeit der Welt schon ertaubten und erblindeten Ohren und Augen wieder öffnen. Man amüsiert sich bei Heise – auch auf Kosten Brechts. In seinem Sinne kann man auch arbeiten, ohne seine Texte und Mittel zu exhumieren.
„Der Brotladen“, nach Bertolt Becht. Regie: Thomas Heise. Darsteller: Thomas Wendrich, Stephan Grossmann, Christoph Müller. Berliner Ensemble, am Bertolt-Brecht-Platz, Berlin-Mitte. Weitere Aufführungen bitte unter 282 31 60 erfragen.
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