Großbritannien steckt in einer Atommüll-Krise

■ Die Wiederaufbereitungsanlage „Thorp“ soll ohne Abfall-Lager in Betrieb gehen

London (taz) – Die Erkenntnis, daß die Wiederaufbereitung von Atommüll ein Problem darstellt, hat sich weithin durchgesetzt. Aber die britische Regierung ist offenbar wild entschlossen, die Wiederaufarbeitungsanlage „Thorp“ (Thermal Oxyde Reprocessing Plant) auf dem Gelände der Atomfabrik Sellafield in Betrieb zu nehmen. Die Betreiberfirma British Nuclear Fuels (BNFL) hat Verträge für die ersten zehn Jahre unter Dach und Fach. So sollen unter anderem aus Japan 2.673 Tonnen, aus Deutschland 969 Tonnen und aus der Schweiz 422 Tonnen verbrauchter Brennstäbe geliefert werden.

97 Prozent des radioaktiven Mülls, der nach der Wiederaufarbeitung übrigbleibt, sollen in Großbritannien gelagert werden. Allerdings gibt es bisher kein einziges Endlager. Wohin also mit den 600.000 Kubikmetern, die – vorausgesetzt, die Verträge werden erfüllt – anfallen? Der Vorsitzende des Beratungsausschusses über die Sicherheit von Atomanlagen, John Horlock, warnte vergangene Woche, daß die Berge von Atommüll nicht nur eine Gefahr für die Arbeiter in Atomanlagen, sondern auch für die Öffentlichkeit darstellten.

In einem Brief, der dem Guardian zugespielt wurde, forderte Horlock den zuständigen Staatssekretär Timothy Eggar auf, umgehend den Bau eines Endlagers in Cumbria im Nordwesten Englands zu veranlassen und das vorgeschriebene Planverfahren zu umgehen. Andernfalls, so befürchtet Horlock, werde es das Endlager frühestens im Jahr 2010 geben – die Behörden in Cumbria wollen erst mit Hilfe eines Felslabors testen, ob der Ort für die Lagerung radioaktiven Mülls geeignet ist. „Horlocks Brief bestätigt, was wir schon lange wissen“, sagte Jane Wildblood von Greenpeace. „Großbritannien steht vor einer Atommüllkrise. Das bestärkt uns in unserer Forderung nach einer öffentlichen Untersuchung über Thorp.“

Die Klage der Umweltschutzorganisation gegen die Inbetriebnahme wurde Anfang September von einem Londoner Gericht zurückgewiesen. Daraufhin nahm BNFL umgehend den radioaktiven Probelauf auf – also noch vor dem Ende der öffentlichen Anhörungsphase in diesem Monat. Nicht nur Greenpeace vermutet deshalb, daß die Entscheidung längst für Thorp gefallen ist und die Anhörungen lediglich eine Public-Relations-Übung sind. Bisher sind 60.000 Beschwerden gegen Thorp eingegangen.

Und der Widerstand gegen die Wiederaufarbeitungsanlage nimmt zu. In London sind Hunderte von gefälschten Reklametafeln der Sun aufgetaucht, die in typisch verstümmelter Boulevardblattsprache verkünden „Thorp: 600 werden sterben.“ Die Sun, die für ihre Umweltberichterstattung nicht gerade berühmt ist, hat Anzeige gegen Unbekannt erstattet, doch die Aktion hat ihr Ziel erreicht und in der englischen Hauptstadt erhebliches Aufsehen erregt.

Von umweltpolitischen Aspekten hat sich die britische Regierung allerdings noch nie leiten lassen. Eine Entscheidung gegen Thorp wird sie höchstens aus finanziellen Gründen fällen. Es wird immer deutlicher, daß die 2,3 Milliarden Pfund (etwa 5,75 Milliarden Mark) teure Anlage ein ökonomischer Alptraum ist. Die irische Regierung, die gegen die Inbetriebnahme protestiert, hat der Londoner Regierung am Montag einen Untersuchungsbericht übergeben, der mit der offiziellen britischen Prognose hart ins Gericht geht: Die Behauptung, daß Thorp in den ersten zehn Jahren 950 Millionen Pfund Gewinn abwerfe, beruhe auf „verzerrten Zahlen und irrtümlichen Annahmen“. Tatsächlich koste die Wiederaufarbeitung im selben Zeitraum 900 Millionen Pfund mehr als die Endlagerung.

Der deutsche Bundesrechnungshof war im Juli bereits zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen: In einem Bericht für den Haushaltsausschuß des Bundestages heißt es, daß „die Wiederaufarbeitung als mindestens doppelt so teuer wie die direkte Endlagerung angesehen“ wird. Daraus zog der Rechnungshof den Schluß, daß „die Wiederaufarbeitung wirtschaftlich nicht mehr vertretbar und die direkte Endlagerung vom Atomgesetz gedeckt“ sei. Das wäre dann vermutlich der Todesstoß für Thorp. Ralf Sotscheck