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Die Trebegänger werden immer jünger

■ Sozialarbeiter fordern offene Angebote für Straßenkinder / Schulbesuch und Arbeit dürfen nicht Bedingung für Hilfe sein

In Berlin müssen Straßenkinder zwar nicht fürchten, wie in Rio de Janeiro von Todesschwadronen ermordet zu werden, aber verstecken müssen sie sich auch hier: denn obdachlose, herumstreunende Kinder darf es in unserer Gesellschaft offiziell nicht geben. Aber es gibt sie, und ihre Zahl nimmt ständig zu. Auf die Problematik von Kindern und Jugendlichen, die auf Trebe sind, hat gestern die Kontakt- und Beratungsstelle (KuB) zum Abschluß einer zweitägigen Fachtagung im FEZ in der Wuhlheide hingewiesen. Die Konferenz, an der rund 150 in der Jugendarbeit Beschäftigte – von der Streetworkerin bis zum Sachbearbeiter beim Jugendamt – teilnahmen, diente dem Erfahrungsaustausch und der Bestandsaufnahme über die „Angebote und Möglichkeiten“ für Trebegänger in Berlin.

Die Senatsverwaltung für Jugend schätzt die Zahl der zur Zeit kurz oder länger auf Trebe befindlichen Kinder auf rund 2.000. KuB vermutet dagegen, daß es inzwischen 4.000 bis 5.000 junge Menschen sind. Die Mehrzahl sei in jugendlichem Alter, aber die Tendenz gehe deutlich dahin, daß immer mehr Kinder zu Trebegängern würden. „Es sind mindestens genauso viele Mädchen, wenn nicht sogar mehr als Jungen“, so KuB- Mitarbeiterin Inka Ihmels. Vermißte Mädchen würden von den Eltern schneller der Polizei gemeldet als Jungen, weil männlichen Ausreißern eher mal ein Abenteuer zugebilligt werde: „Bei Mädchen heißt es dagegen ganz schnell, sie verkaufen sich.“

Das Fazit der Fachtagung: Praktiker und Politiker müssen bezüglich jugendlicher Trebegänger umdenken lernen. Konventionelle Sozialarbeit verfolgt bislang das Ziel, den Jugendlichen auf jeden Fall von der Straße herunterzuholen und ihn wieder zur Schule oder zur Arbeit zu schicken. Ein Platz in einer Jugendwohngemeinschaft beispielsweise ist auf Dauer nur dann gesichert, wenn sich der Jugendliche „förderungswillig“, also lernbereit und arbeitsam, zeigt. Deshalb wurde gestern mit Nachdruck die Einrichtung eines Kinder- und Jugendhauses gefordert, in dem Trebegänger ohne pädagogische Betreuung und anderweitige Bedingungen einfach nur übernachten, duschen und Wäsche waschen können. Zum Glück gebe es die Rollheimer Dörfer und einige besetzte Häuser, die Trebegängern ohne Bedingung Unterschlupf gewährten, hieß es. Das sei ein weiterer Grund, warum diese nicht geräumt werden dürften.

Trebegänger seien „nicht ausschließlich defizitär“, sondern entwickelten auf der Straße eigene Kompetenzen, erklärte der Essener Uni-Professor Gerhard Metzger, der eine Studie zum Thema „Kinder auf der Straße“ erstellt hat. Die Jugendlichen müßten als „gleichwertiges Gegenüber wertgeschätzt werden“, so Inka Ihmles. Kritisiert wurde auch, daß Schulschwänzen immer noch mit Geldbußen (Adressat sind die Eltern) geahndet und „Mundraub“ bestraft wird. Denn kaum ein Trebegänger kommt ohne zu klauen über die Runden. Plutonia Plarre

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