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Rußlands Immobilien-Kaufrausch

Der russische Frühkapitalismus ist seit der Privatisierung des Wohnungsmarkts um einen Typus reicher: den Immobilienmakler  ■ Aus St. Petersburg Evelyn Filipp

„Kaufe Wohnung“ und darunter eine Telefonnummer – selbst auf den Milchtüten macht sich der russische Immobilienkaufrausch bemerkbar. Wände und Toreinfahrten Sankt Petersburgs sind mit Kaufangeboten gepflastert. In den zahlreichen Anzeigenblättern, die mittlerweile das traditionelle Mund-zu-Mund-Informationssystem ergänzen, bilden sie zwischen Westautos, Kleidung und erotischen Diensten die mit Abstand größte Rubrik.

Der russische Frühkapitalismus ist dadurch um einen Typus von Geschäftsmann reicher geworden: den Makler. Zwischen türkischen Lederjacken, finnischem Schinken und koreanischen Duschköpfen findet man im Petersburger Freiluftbasar „Apraksin Dwor“ den Aufgang zum Maklerbüro der Anzeigenzeitung Reklama-Schans.

Die seit einem Jahr existierende Agentur vermittelt im Monat sechzig Wohnungsverkäufe. Gegen 15.000 bis 20.000 US-Dollar und sieben Prozent Maklerprovision gehen bereits privatisierte Wohnungen an neue Besitzer. Bei denen handelt es sich zumeist um Geschäftsmänner, um „sogenannte und manchmal sogar richtige“, wie Jewgeni Samson von Reklama- Schans bereitwillig einräumt. In Zeiten galoppierender Inflation ist Immobilienkauf eine vielgefragte sichere Anlage für die in- wie ausländischen Profiteure der blühenden russischen Basarwirtschaft.

Doch auch für russische Normalbürger sind die Dienste der Agentur von Interesse. Für Gera und Natascha Seljonow bedeutet die Privatisierung der Wohnungen und die Möglichkeit, sie zu verkaufen, das Ende einer jahrelangen Misere. Sie wollen zwei Kommunalkazimmer und eine Einzimmerwohnung verkaufen und dafür eine Dreizimmerwohnung erwerben.

Die zwei Zimmer in der Kommunalka, der oft unfreiwilligen russischen Form der Wohngemeinschaft, konnte Natascha mit Sohn Mischa und Tochter Oksana nach der Scheidung ihrer ersten Ehe behalten. Die Einzimmerwohnung fiel ihr nach dem Tod ihrer Mutter zu. In ihr wohnte Gera, der aus Kirow stammt und für Petersburg keine Zuzugserlaubnis bekam, zuerst illegal. Auch die Heirat vor vier Jahren änderte an diesem zerrissenen Familienleben wenig. Die Warteliste für Dreizimmerwohnungen beim bezirklichen Wohnungskomitee versprach auf Jahre keine Besserung.

Mit der Privatisierung der Wohnungen ist neuer Schwung in die verfahrene Situation gekommen. Seit Anfang letzten Jahres übergibt der russische Staat seinen Bürgern kostenlos ihre bisherigen Mietwohnungen als Eigentum. Diese Privatisierung ist eine erstaunlich unbürokratische und mit zwei Monaten Bearbeitungszeit kurzfristige Prozedur: Meldebestätigung und Antrag auf Privatisierung genügen. 160.000 Wohnungen, ein Zehntel des Petersburger Wohnungsbestandes, sind so binnen Monaten zu Privatbesitz geworden.

Allerdings müssen sich zuvor alle Mitglieder einer Wohnung mit der Privatisierung einverstanden erklären – eine Klausel, die erst nachträglich in das Privatisierungsgesetz eingefügt wurde. Es habe Fälle gegeben, so Alexander Schofin vom Petersburger Stadtsowjet, in denen familienmüde Ehemänner die Wohnung verkauft und Weib und Kind ohne Dach über dem Kopf zurückgelassen hätten.

Daß bei Wohnungsprivatisierung und -verkauf nicht immer mit sanften Methoden gearbeitet wird, bestätigt auch Waleri Dimitrew von der juristischen Beratungsfirma ABC. Er hat monatlich mit vierzig Klienten zu tun, die beim Wohnungsverkauf betrogen worden sind. In den meisten Fällen ist die vereinbarte Kaufsumme nicht gezahlt worden, in einigen Fällen kam statt der vereinbarten 20.000 Dollar eine bewaffnete Schlägertruppe vorbei. Ein weiteres Problem ist die juristische Unerfahrenheit der russischen Bürger: Ein älteres Ehepaar hat eine Schenkungsurkunde statt eines Kaufvertrages unterschrieben. Die Juristen von ABC versuchen nun, die Schenkungsurkunde für ungültig zu erklären.

Für Juri Sansonow, der als freier Agent für Reklama-Schans arbeitet, sind dies jedoch Einzelfälle. Er hält auch die Befürchtung vieler Klienten, ein Kaufgesuch in der Anzeigenzeitung würde sofort die Aufmerksamkeit der Mafia auf ihre gehorteten 20.000 Dollar lenken, für übertrieben.

Das größte Problem sieht er in der Vermittlung von passenden Ersatzwohnungen. Bei der Privatisierung einer Kommunalka würde jedesmal ein Wohnungskarussell in Gang gesetzt: Für bis zu 15 Menschen müßte Wohnraum gefunden werden. Die meisten würden nach einer Einzelwohnung suchen. Den umgekehrten Weg gingen dagegen nach Juri Sansonow „nur Menschen sehr niedriger Klasse, Alkoholiker und ähnliche“.

Doch neben sozialen Problemfällen trifft dies auch auf jene Bevölkerungsgruppen zu, die von der Entwertung ihrer Gehälter durch Inflation am stärksten getroffen sind. Lehrer, Krankenschwestern und Ingenieure, die es nicht schaffen, sich einen Nebenverdienst zu organisieren, sind gezwungen, ihre Wohnung zu Geld zu machen. Auf längere Sicht wird sich die wachsende soziale Spaltung der russischen Bevölkerung im Stadtbild auswirken. Auch in Rußland wird es dann gute und schlechte, arme und reiche Bezirke geben.

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