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Urlaub von den täglichen Quälereien

Aids-infizierte Kinder und ihre Familien werden in Rußland allein gelassen / Ein Heim bei St. Petersburg bietet die Möglichkeit zum Gespräch mit anderen Betroffenen  ■ Von Matt Bivens und Maxim Korzhov

Wenn die Brüder Bocharow, fünf und sieben Jahre alt, auf den Spielplatz kommen, packen die anderen Eltern ihre Kinder und verlassen das Gelände. Ältere Jungen spucken die beiden an und werfen mit Stöcken nach ihnen. Die Nachbarn der Bocharows drängen täglich darauf, daß die Familie umziehen soll. Der fünfjährige Sascha hat Aids, der siebenjährige Sergej ist zwar gesund, aber auch ihm geht man aus dem Wege. „Sein Lehrer sagte ihm, sein Bruder hätte Aids, deshalb würden alle gehen, wenn er in die Schule kommt“, sagte Tatjana Bocharowa, die 25jährige Mutter der Jungen.

In dieser Woche haben Sascha und 29 andere Aids-infizierte Kinder Urlaub von den täglichen Quälereien des ländlichen Rußland. In Ust-Izhora, einer Kleinstadt etwa zehn Kilometer vor St. Petersburg, erholen sie sich im „Zentrum für Aids-Prävention und -hilfe“. Die lokale Presse hat einen anderen Namen für das Heim gefunden: Es wird als „Aids-Kinderlager“ bezeichnet.

Die Ärzte des Zentrums, das in einem Gebäudekomplex aus der Breschnew-Ära untergebracht ist, untersuchten Jungen und Mädchen im Alter von vier bis vierzehn Jahren. Die Anlage ist von hohen Steinmauern umgeben, die Kinder wohnen – in Rußland ein königlicher Luxus – zusammen mit ihren Müttern und gesunden Geschwistern in Einzelzimmern. Sie gehen in den Zirkus und in die Philharmonie, werden bewirtet und verwöhnt. Bananen, die pro Stück die ungeheure Summe von 250 Rubeln (40 Pfennig) kosten, sind besonders begehrt. Und jede Mutter erhält ein Taschengeld von 30 Dollar, um Obst zu kaufen.

Wichtiger noch: Im „Aids-Lager“ rennt niemand vor den infizierten Kranken davon, keines der Kinder muß lügen. „Die Mütter treffen sich und reden miteinander, ohne daß sie Angst haben oder irgendetwas verbergen müßten“, sagt Juri Fomin, der 49jährige Leiter des Krankenhauses, in dem sich das Zentrum für Aids-Prävention und -hilfe befindet. „In ihren kleinen Heimatstädten halten viele die Krankheit ihrer Kinder streng geheim.“ Die Ärzte, Mütter und Kinder erzählten, Aids-infizierte Kinder und ihre Familien würden beleidigt, gehaßt und gefürchtet. „Mütter verlieren ihren Arbeitsplatz. Die Nachbarn verfolgen sie und sagen, sie sollten umziehen. Wenn Väter erfahren, daß ihre Kinder Aids haben, lassen sie häufig ihre Familien im Stich oder beginnen zu trinken“, sagt Evgeni Woronin, der 33jährige Chefarzt.

Wie viele Familienprobleme wird in Rußland auch die Last eines Aids-infizierten Kindes gewöhnlich der Mutter aufgebürdet. Woronin erzählt, daß manche Frauen die Krankheit der Kinder selbst vor ihren Männern geheim hielten. „Sie sagen, ,unser Junge ist krank‘, halten aber die genaue Krankheit geheim“, sagt Woronin. Natascha, 33, Musiklehrerin aus Rostow am Don, hat sogar vor ihrem siebenjährigen Sohn geheimgehalten, daß er Aids hat. „Wir wollen nicht verachtet und aus unserer Wohnung geworfen werden“, sagte sie, während der dünne, braunhaarige Junge ein paar Meter entfernt mit seinem Spielzeugauto über einen Tisch fährt.

„Er haßt die Besuche im Krankenhaus, er weint immer. Hier ist der einzige Ort, den er mag, hier ist es ganz anders als in einem üblichen Krankenhaus.“ Auch für den jüngeren Bocharow, den blonden Sascha, bot das Aids-Zentrum die seltene Chance, mit anderen Kindern zu spielen. In Podlyosnoe, einem Dorf mit 2.000 Einwohnern in den Vorbergen des Kaukasus, wurde er von den Spielplätzen und aus der Vorschule vertrieben. Und wenn Sergej seinen kleinen Bruder gegen die älteren Jungen verteidigt, schlagen sie ihn. Beim Erzählen kommen der Mutter die Tränen, mit einem Taschentuch wischt sie sich Augen und Nase. „Niemand kommt mehr zu Besuch. Die Nachbarn haben uns schon mehrfach gesagt, wir sollten gehen. Aber wohin sollen wir denn? Hier sind wir zuhause, hier leben unsere Verwandten.“

Sascha war ein Jahr alt, als er in einem Krankenhaus in Stavropol aufgrund einer schmutzigen Spritze Aids bekam. Das ist typisch. Die Ärzte sagen, 95 Prozent der Aids-infizierten Kinder in Rußland seien während der zweijährigen Unwissenheit in Rußlands Landkrankenhäusern infiziert worden. 1988 und 1989 überwachten Ärzte und Krankenschwestern selten die Blutübertragungen, gaben sich keine Mühe bei der Sterilisierung und benutzten immer wieder dieselben Spritzen, berichtet Woronin. Seitdem hat nach seinen Angaben jedoch kein Krankenhaus mehr einen Patienten mit Aids infiziert.

Laut dem Gesundheitsministerium haben in Rußland 274 Kinder Aids. Weitere 60 sind gestorben. „Das sind nur die, von denen wir wissen“, sagt Woronin. „Wahrscheinlich gibt es noch weitere sterbende Kinder mit anderen Diagnosen, die auf Aids nicht überprüft wurden.“ Unter den Toten sind auch einige Kinder, die im letzten Sommer im Lager waren, als es zum erstenmal abgehalten wurde. Seitdem sind vier oder fünf von ihnen gestorben, die Ärzte wissen die Anzahl nicht genau. Im vergeblichen Versuch, ihrer Erinnerung auf die Spur zu kommen, zählen sie einander Namen auf: Die vierjährige Anja, der siebenjährige Oleg, der siebenjährige Wowa.

Dr. Juri Teretin, ein 40jähriger Kinderarzt, hat drei Jahre im Zentrum gearbeitet. Er hat sich noch immer nicht daran gewöhnt, die Kinder sterben zu sehen. „Es ist schrecklich, wirklich schrecklich“, sagt er, während er der vierjährigen Oksana nachschaut, die in einem Wirbel aus rotem T-Shirt, langen blonden Haaren und hellem Kichern über den Flur rennt. „Du siehst, wie ein glückliches kleines Persönchen vorbeirennt, und weißt doch genau, daß du ihr nicht helfen kannst, und daß du sie bald nicht mehr sehen wirst.“

Organisiert wurde das „Aids- Lager“ von den Ärzten des Zentrums, die Kosten in Höhe von 5.000 Dollar wurden von norwegischen und britischen Wohlfahrtsorganisationen aufgebracht. „Wir existieren ausschließlich durch Spenden“, sagt Dr. Fomin, „alleine können wir nicht einmal Medikamente kaufen.“ Immerhin kommen die Spenden nicht nur aus dem Ausland. Fomin erzählt, der Petersburger Homosexuellenverband habe amerikanische Medikamente gespendet, und er lobt das Gesundheitsministerium, weil es den Familien kostenlose Flugtickets zur Verfügung stellte.

Ursprünglich wollten die Ärzte neben dem Zentrum ein kleines Dorf mit Hütten errichten, „in dem nichts die Kinder an ein Krankenhaus erinnern sollte“, sagt Fomin. „Leider war auch das für uns zu teuer.“ Der zehntägige Urlaub endet am Dienstag, die Kinder müssen nach Hause.

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