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Addio, Pippo, addio, addio!

Huren, Snobs, Clowns, Transvestiten, Artisten, Schwule und der Hektik der Nacht folgt morgens die Einsamkeit: ein Ort namens Federico Fellini  ■ Von Georg Seeßlen

I

„Es ist so ein Gefühl“, sagt Fred zu Ginger, er ist gerade mal ein wenig nüchtern, „schwer zu erklären ... es ist, als würden mich die Dinge seit einiger Zeit ... irgendwie seltsam anblicken.“

„Wer blickt dich seltsam an?“ fragt Ginger großäugig und verständnislos.

„Die Dinge... Als wollten sie sich von mir verabschieden: Adieu, Pippo, adieu, adieu, adieu, adieu, Pippo!“ Und Fred hebt winkend die Arme, als spielte er selbst die Dinge, die sich von ihm verabschieden.

Natürlich ist es schmerzhaft, wenn man die besten Jahre längst hinter sich hat, alles kaputtgegangen ist, was in einem Menschenleben so kaputtgehen kann, die Prostata nicht mehr mitspielt, das Haar ausgeht und niemand mehr den Lügenmärchen zuhören will, die man erzählt. Und doch ist es eines der schönsten Todesbilder, die je erfunden worden sind.

Und wie Marcello Mastroianni gegenüber von Giulietta Masina das spielt, zwischen quirligen Liliputanern, vertrottelten Generälen, herrischen und durch und durch gefühllosen TV-Machern und närrischen Spökenkiekern, und wie Federico Fellini das inszeniert hat, wie nebenhinein und zugleich in einem wahnwitzig eng gesponnenen Netz von Beziehungen und Bedeutungen und Nebenbedeutungen, direkt in eine triste Weihnachtlichkeit hinein, an die niemand mehr glaubt und die jede und jeden zum Heulen bringen mag, ist es, daß man losheulen und auflachen mag, daß man in sich hineinträumend auf die Straße gehen und irgendeinen anderen Menschen in den Arm nehmen möchte.

Wenn die Dinge tatsächlich die Fähigkeiten hätten, sich von uns zu verabschieden, so wäre es ein leichtes, das lange Sterben auszuhalten, hundert Geschichten wären noch zu erzählen. Das ist die Poesie. Die Wahrheit ist, daß sich nicht ein gottverdammtes Ding von uns verabschiedet hat, wenn uns der Tod, mehr oder minder rasch, antritt.

Das Leben ist die einzige Entschädigung für das Leben. Federico Fellini hat immer poetische Filme gemacht, auf eine scheinbar altmodische Art, das heißt, daß er für jede Illusion, die er zerstört, auch einen Trost findet. Sehr romantisch war das, im Sinne Schlegels durchweg „schön“, als „das Unendliche, endlich erzählt“. Und doch sind die Filme Fellinis auf wundersame Art modern, insofern sie uns an dem Prozeß des Schönwerdens beteiligen. Traum und Materialismus begegnen sich. Federico Fellini hat unentwegt an seiner magischen Autobiographie gearbeitet, seine Obsessionen und Visionen ausgebreitet wie ein spielendes Kind, das die Fähigkeiten des alten Hexenmeisters erobert hat.

Aber zugleich hat er immer die Arbeit an dieser magischen Autobiographie, die, wie wir wissen, eine Arbeit des Verdeckens und eine Arbeit der Suche nach dem Verdeckten ist, ausgestellt.

Umberto Eco hat Fellinis Filme „offene Kunstwerke“ genannt. Das ist vielleicht ein bißchen großspurig, weil es schwer ist, sich für unsere Zeit und im Kino etwas anderes vorzustellen. Aber man kann es sich wirklich ganz sinnlich vorstellen, daß sie funktionieren wie ein offenes Haus, aus dem Lichter scheinen und Musik schallt, Menschenstimmen zu hören sind, schrille und sanfte, und weil man kein anderes Ziel hat, geht man hinein, gelangt von einem Zimmer zum anderen, in jedem spielt sich ein eigenes Drama ab, jedes kommentiert das andere, und von Zimmer zu Zimmer erfaßt uns mehr das Gefühl, diese Feier sei eigentlich für den zufälligen Besucher arrangiert.

Man beginnt eine Reise um sich selbst, kreisend, wie auch die Filme Fellinis in sich kreisen, Wiederbegegnungen suchen, wie die Protagonisten von „La Dolce Vita“ sich in „Intervista“ wieder begegnen. Die offene Form des Kunstwerkes nämlich steht in einem paradoxen Widerspruch zur Geschlossenheit der Fellini-Welt, in der alle Elemente mehrfach durch einander codiert sind, in der es aber andererseits keinen Augenblick der Ruhe, keinen Punkt der Stille gibt, von dem aus die Erinnerungen und Bilder zu sortieren wären. Keineswegs ist Fellini in seinen Filmen auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Seine Erinnerung produziert vielmehr Gegenwärtigkeit. Es ist nicht die Erzählung, sondern das Arrangement, nicht das Drama, sondern die Komposition, die seine Arbeit bestimmt. Es sind Reiseerinnerungen, Notizen von Reisen mit der Liebe, dem Tod und der Erinnerung. Fellini hat, wie seine Kritiker ihm immer wieder vorwarfen, nach seinem Abschied von der „realistischen“ Erzählweise mehr oder minder immer wieder denselben Film noch einmal gedreht. Dabei ist er natürlich nur immer wieder in seine Welt und seine Sprache zurückgekehrt, um sie immer wieder anders anzusehen.

II

Eine kleine Kulturgeschichte Europas: Ingmar Bergman kommt nach Cinecitta und begegnet Federico Fellini. Die beiden Männer, nicht ohne Bewunderung füreinander, kommen und kommen nicht miteinander ins Gespräch. Sie sind verlegen. Fellini möchte wenigstens etwas zeigen. Er führt Bergman an das Wasserbecken des Studios, das augenblicklich ein wenig verwildert ist. Und er deutet auf eine Anzahl von Kaulquappen im Wasser und möchte schon lachen, ein wenig über die seltsame Kraft des Lebens philosophieren, sich verlorene Bereiche zurückzuerobern. Aber da sieht er in Bergmans Gesicht die steinerne Verständnislosigkeit und bricht ab. Kaulquappen!

Fellinis Weg geht von Rimini nach Rom, vom Müßiggänger, Journalisten, Gagschreiber, Karikaturisten zum Drehbuchautor, der an Roberto Rosselinis „Roma, citta aperta“ (1945) und „Paisa“ (1947) mit Pietro Germi und Alberto Lattuada arbeitete, mit dem er gemeinsam „Luci del varieta“ („Lichter der Großstadt“, 1950) inszeniert, bevor er 1952 sein Regiedebüt mit „Lo sceicco bianco“ („Der weiße Scheich“) gibt. Der weiße Scheich, der überschminkte Alberto Sordi, Darsteller in blöden Fotoromanen, schwingt auf einer riesigen Schaukel in einem römischen Wald.

Er enttäuscht alle Hoffnungen, aber dieses Bild setzt sie zugleich unendlich fort. Das gehört zu den Augenblicken, die einen nicht mehr verlassen, sowenig wie die Blicke der Menschen in „I vitelloni“ („Die Müßiggänger“, 1953), die gierig und müde ihr Leben nicht zu fassen kriegen. „La strada“ („La Strada – Das Lied der Straße“, 1954) ist zugleich die Zerstörung einer sentimentalen Geschichte und ihre Rettung, und es ist zugleich die Zerstörung der Vorgaben des Neorealismus (und entsprechend tobte Cesare Zavattini, der, wie alle Ideologen einer ästhetischen Methode, sie am allerwenigsten verstand) und ihre Rettung in der durchaus nicht unboshaften Umkehrung. Fellini gehört zu jenen Regisseuren, die die Metamorphosen des Neorealismus betrieben und ihm doch treu blieben.

Das meint nicht nur das immer wieder unvermutete Auftauchen von Elementen in Fellinis Filmen, die auch Zavattini in sein Konzept des direkten Realismus hätte einbauen können, sondern vor allem eine Art des Lebens und des Sehens, eine besondere Form der Beziehung zwischen Person und Politik, zwischen Autobiographie und Metapher. Der Neorealismus rekonstruiert das Volk aus lauter Menschen, er will letzten Endes aus dem Traum keine Transzendenz werden lassen. Ein Gebot des Neorealismus, nämlich die Dinge und Menschen so sein zu lassen, wie sie sind, hat Fellini zur Meisterschaft gebracht. Seine „Gesichter“ in den Filmen haben zwei nur scheinbar miteinander konkurrierende Aufgaben, nämlich zum einen, nichts als sie selbst zu sein, und zum anderen einen ästhetisch-erotisch-mythischen Kosmos zu bilden, also das Unverwechselbare, das Ganz-für-sich-Sein zu einer Sprache zu bringen.

So wird die magische Autobiographie Fellinis zu einem Spiegel, in dem wir durch Fellini auf Italien und durch Italien auf Europa blicken. Und zurück auf die konkrete Einmaligkeit des Individuums. „Alle diese Gesichter von Fellini sind irgendwie auch die Gesichter Fellinis. Vielleicht sind wir doch weniger dekadent, als wir eigentlich gedacht haben. Er läßt uns gnädig davonkommen, Masken und Marionetten, Theater, Kino und Zirkus sind freundlich tadelnde, mild spottende Metaphern der Comédie Humaine, die hier nie wirklich in zynische, nihilistische Farce umschlägt, sagt Ronald D. Laing zu der Sammlung von Fotos „Fellinis Faces“. Das Sehen von Gesichtern – manchmal, behauptet Fellini, sind es bis zu sechstausend vor einem Film gewesen, die auf eine einfache Zeitungsannonce hin in sein Büro kommen, um dem berühmten Regisseur Federico Fellini ihre Besonderheit anzubieten –, ist der Beginn eines ästhetischen Prozesses, durch den das Wirkliche hervortritt, um so mehr das Künstliche sich zeigt.

„Il bidone“ („Die Gauner“, 1955), ein Film mit einem eher widrigen Produktionsschicksal, macht das Problem klarer: es ist eine groteske und sentimentale Geschichte und zugleich die Parodie auf groteske und sentimentale Geschichten. Tullio Kezich nennt ihn einen Film „über die untergehende Kunst, dem Nächsten das Fell über die Ohren zu ziehen, und daher auch einen Film über den Niedergang und den Tod der Trickbetrüger“. Es ist ein Film der Trauer, aber zugleich ist es ein Film, der sich lustig macht über die Attitüde des Neorealismus, das Untergehende seiner Authentizität willen zu bewundern. Die Einheit von „Volk“ und „Wirklichkeit“ verschwindet unter dem Ansturm der Lügenmärchen, aber die Lügenmärchen sind am Ende selbst die Verlierer.

III

Mit „La strada“ begann die Reihe der Filme mit Giulietta Masina, die Fellini, gewiß, zum Star gemacht hat. Aber ebenso könnte man davon sprechen, daß Giulietta Masina ein anderer Autor in der Fellini-Welt ist und daß sie, von „La strada“ über „Le notti di Cabiria“ („Die Nächte der Cabiria“, 1957) und „Giulietta degli spiriti“ („Julia und die Geister“, 1965) bis „Ginger e Fred“ („Ginger und Fred“, 1986) eine eigene Geschichte erzählt, die ihrerseits Fellini beim Erzählen zusah.

Giulietta Masina und Federico Fellini gehören zu den letzten öffentlichen Liebespaaren, die etwas vorleben und vorträumen, was immer wieder etwas zu erklären scheint, im guten wie im bösen. Komplizen, Geschwister, Liebende jenseits der Liebe, einander beschützend, einander quälend und einander verzeihend, noch eine Antwort auf die Frage, ob sich Liebe und Phantasie vertragen könnten. In „Ginger und Fred“, diesem Abschiedsfilm, trägt nicht nur der so frappant dem „Maestro“ ähnelnde Marcello Mastroianni, sondern auch sie, die scheue, die starke, die Überlebende des einst immerhin im Tanz perfekten Paares, die für Fellini so typischen Kleidungsstücke, die karierten Plaids und Pepita-Hüte. Sie ist er, und er ist sie, das ist vielleicht auch das Gegenteil von Liebe, wie sie als das Begehren daherkommen mag, das Begehren, das die Phantasien des Mannes in „La citta delle donne“ („Die Stadt der Frauen“, 1980) in seine Groteske führt.

Fellini zeichnet das Begehren des Mannes als die andere Seite der Entwirklichung der Frau, sein Modell ist so deutlich, daß es der Schlußszene von „Il Casanova“ („Casanova“, 1976) nicht bedurft hätte, in der der zweifelhafte Held in der Puppe seine ideale Frau gefunden hat. Giulietta Masina wäre im Film und in dem, was vom Leben in einer Privatmythologie Öffentlichkeit erlangen muß (zum Beispiel in Sandra Milos furchtbarem „Enthüllungsroman“ „Caro Federico“), die Lösung, und sie ist es zugleich nicht, weil sie nur Spiegel werden kann, nicht Ergänzung. Die Dinge können sich von Pippo verabschieden. Ginger versucht, einen besseren Abschied anzubieten. Pippo kann es nicht einmal sehen, weil sein Begehren immer infantil bleiben wird: Mutter und Hure verlangend, verfehlt er zum dritten Mal die Frau.

IV

Mit „La dolce vita“ („Das süße Leben“, 1960) hat Fellini einen Prozeß beständiger Selbstkritik und beständiger Selbsterrettung begonnen, der seine eigenen Gesetze produziert. Und seit „Otto e mezzo“ („Achteinhalb“, 1968) ist unabdingbar in diesen Prozeß das Filmemachen selber mit einbezogen. Jeder Film, den Fellini seitdem dreht, ist immer auch ein Film über die Produktion von Bildern und ein wenig über die Produktion des Bewußtseins davon. Der Sohn, der auf der Suche nach der verlorenen Symbiose mit der Mutter zum Tyrannen geworden ist, stellt auch die Macht, die er über die Bilder hat, zur Disposition. Das ist zu Zeiten skandalös, manchmal, wie in „Die Stadt der Frauen“, auch nicht ohne Pein und zeigt sich doch in den späteren Filmen vor allem als Groteske. In „Ginger und Fred“ gibt es den vielleicht letzten Versuch, einander zu berühren, so wie sich John Cassavetes und Gena Rowlands in „Love Streams“ zu berühren versuchen: In „La voce della luna“ („Die Stimme des Mondes“, 1990) beziehen sich Mann und Frau berührungslos aufeinander.

Fellinis Filme beschreiben alle die Suche nach der Frau und die Flucht vor ihr. Das tut natürlich jeder Männerfilm mehr oder weniger, das tut auch ein Western mit, sagen wir, Randolph Scott, aber da fällt es nicht auf, da lernen wir nichts daraus. Nicht die Mythologie der Fellini-Filme macht ihren dann doch „politischen“ Gehalt aus, sondern ihre Durchschaubarkeit, der Anteil der „Bearbeitung“ von Mythos und Biographie. Nicht, was sie zu sagen haben, ist bedeutend bei Fellinis Filmen, sondern das, wie sie die Sprache dazu verändern.

V

Es gibt die immergleichen und doch immer wieder neuen Erscheinungen: die Huren an der Straße, die Bordelle, die Transvestiten, die alternden Lebemänner, die homoerotische Versuchung, die Clowns, die großbrüstigen Frauen vom Lande, die snobistischen Intellektuellen, den Weg von der Provinz in die Stadt, die Hektik der Nacht und die Einsamkeit in der Morgendämmerung, die magische Reise in die Vergangenheit, die Herstellung der Illusionen, die bizarren Defilees und Modenschauen, der Zirkus, die klerikalen Schatten, die spiritistischen Séancen, die Feste. Immer steht eines dieser Elemente im Zentrum des Films, die anderen gruppieren sich darum herum. Sie entstehen aus einer besonderen Form der Bewegung zu einem magischen Ort oder in diesem besonderen Raum, der immer einen „Bauch“ hat wie der Ozeandampfer in „E la nave va“ (Fellinis „Schiff der Träume“, 1983).

In „Otto e mezzo“ kommt eine enttäuschte Journalistin zu dem resignierten Schluß über den Regisseur: „Er hat nichts zu sagen“, soviel kommt auch bei „La citta delle donne“ heraus, und es könnte als Motto über „Intervista“ („Intervista/Das Interview“, 1987) stehen. Das Sich-Entziehen ist die Bewegung der Fellini-Filme. Und nichts sucht er weniger als die äußere Wirklichkeit. Sein Rom entsteht im Studio (dieses Rom, das seinen Worten nach aussieht, als würde es beständig damit beschäftigt sein umzuziehen), in „Roma“ („Fellinis Roma“, 1971) ebenso wie sein Ozean von „E la nave va“ und sogar seine Film- und Fernsehstudios in „Intervista“ oder „Ginger e Fred“ sind rein cinematographische Erfindungen, die aus ihrer inneren Wahrheit leben. Das zugleich fruchtbarste und schönste, was Fellini geschehen konnte, wäre, daß jemand seinen Filmen glaubte. Damit wäre die Fähigkeit des Hexenmeisters, sich zugleich zu sich zu bekennen und sich von sich zu distanzieren, zusammengebrochen. Und wir hätten sehr viel weniger über das Funktionieren des Kinos gelernt. Er mache, so Fellini, „Filme, indem ich Dinge aus meinem Leben so aufrichtig, manchmal bestimmt bis zur Indiskretion erzähle, bis ich vielleicht ein Gefühl des Unbehagens durch meine Bekenntnisse auslöse, die überschwenglich und vielleicht nicht gefragt sind“.

Koketterie des magischen Autobiographen? Ja und nein. Wenn sich Fellini in seinen Filmen auf diese offene Weise verbergen kann, so sind wir frei, die Wahrheit in den Fellini-Filmen jenseits von Fellini zu sehen. Man wird, wenn man zum Beispiel seine „Stadt der Frauen“ einer ideologiekritischen Kritik oder einer psychoanalytischen Befragung unterzieht, nicht so sehr Fellini mißverstehen als das Wesen des Films selber.

VI

Fellini und die Comics, das bedeutet zugleich eine ironische Darlegung der Methode und noch einmal eine Verbindungslinie in der magischen Autobiographie. Seinen Strich entwickelte Fellini bei seinen Zeichnungen aus denkbar konventionellen, karikaturistischen Methoden. „Gut“ wird der Zeichner Fellini erst, wo er seine leicht verschmierten „Ligne Claire“-Kreationen in eine neue Dynamik zwingt, wo die Lust an der Physiognomie und der individuellen Bewegung so manisch hervortritt wie die Lust in seinen Casting- Sitzungen und der Produktion der „Faces“. Als aneinandergereihte Fotos erscheinen seine „Faces“ gelegentlich wie das „wirkliche“ Repertoire von Vorlagen für die „Dick Tracy“-Comics des Chester Gould. „Ich brauche“, sagt Fellini, „keine Schauspieler, ich brauche Gesichter.“ Zu den vielen Lügengeschichten aus Fellinis Biographie gehört wohl auch, daß er an den „Flash Gordon“-Comics als Szenarist beteiligt war, die in Italien gezeichnet wurden, nachdem unter den Faschisten die amerikanischen Originale nicht mehr ins Land kamen.

Fellini ist auch als Regisseur immer ein wenig Zeichner geblieben, einer, der Skizzen hintereinander entwirft und für den vor allem die Magie des Augenblicks zählt. Die Fumetti haben sein Leben und seine Arbeit immer wieder stark beeinflußt. Und wenn es wahr ist, daß er seit langen Jahren keine Filme mehr im Kino angesehen hat, so hat er doch die neuesten Comic-Kreationen immer gut gekannt.

Die Fumetti sind ein Teil des Erinnerungsschatzes, der ja neben magischer Autobiographie immer auch Kulturgeschichte ist. In „Intervista“ ist Marcello Mastroianni ganz nach dem Vorbild von Fellinis zweitliebstem Helden „Mandrake the Magician“ hergerichtet. Und in mehreren Filmen versucht der Regisseur, die Farbwerte der frühen „Flash Gordon“-Comics wiederzugewinnen. Und noch sein Montageprinzip erinnert an die Behandlung der „Panels“ als kompositorische Einheiten.

Aber tiefer noch sind die Figuren in Fellinis Filmen keine „Personen“ im Sinne des psychologischen Realismus, sondern eher solche Erscheinungen wie die Helden der Comics, die ihr „Leben“ nur aus der Beziehung zu ihrem Bild ziehen. So wenig ein Comic-Held außerhalb des Panels existiert, so wenig existieren Fellinis Menschen außerhalb ihrer Projektion. Genauer gesagt: Sie könnten dort sehr wohl leben, aber ganz anders. Gelegentlich hat man mitten im Alltag das Gefühl, in eine Fellini- Szene geraten zu sein. Dann möchten, wie in einem Comic strip, die Gesichter und Gesten „stehenbleiben“ und verlangen einen Rahmen. Seine „Faces“ haben „Auftritte“, sie stellen sich wahrhaft selber dar. Aber natürlich gibt es auch Unterschiede zwischen den Medien: „Comics sind nicht in Film übersetzbar, der ja seinen Reiz aus der Bewegung, aus Rhythmus und Dynamik bezieht. Die Welt der Comics kann großzügig dem Kino ihre Bilder, ihre Figuren, ihre Geschichten ausleihen, jedoch nie jenes Geheimnis, das in der Starrheit des Augenblicks liegt, vergleichbar mit der Unbeweglichkeit eines von der Nadel durchstochenen Schmetterlings“ (Fellini).

So erfüllte sich am Ende Fellini diese Sehnsucht nach dem ewigen Augenblick als Comic-Autor. 1986 hatte er die Erzählung für einen nicht gedrehten Film, „Die Reise nach Tulum“, veröffentlicht, eine neuerliche Variante jenes Films, „Die Reise des Giuseppe Mastorna“, von dem Fellini immer wieder gesprochen hat und der nie verwirklicht werden durfte. Federico Fellini übertrug schließlich dem Comic-Zeichner Milo Manara die Arbeit an einer Comic- Version, der schon in Strips wie „Ohne Anfang“ in den Fellini- Kosmos eingedrungen war und die Plakate zu „Intervista“ und „Die Stimme des Mondes“ geschaffen hatte. In seinem Szenario für Manaras Comic entfernt sich Fellini wieder vom ursprünglichen Skript und macht so etwas wie eine Comic-Reise durch seine eigenen Filme.

VII

Damit kein Mißverständnis entsteht: Fellinis Filme sind die Arbeit eines Erzreaktionärs. In der „Orchesterprobe“ scheint eine Sehnsucht nach Ordnung durch seine mürrische Ablehnung des lauten, jungen Chaos immer wieder auf, und seine unendliche Fähigkeit sich zu sentimentalisieren, geht einher mit pessimistischer Nostalgie. Er fürchtet sich vor den Frauen, vor der Jugend, vor dem Wandel. Und Fellinis Bilder der Frauen erscheinen als einigermaßen indiskutabel, es ist ein leichtes, seine magische Autobiographie als cineastisches work in progress nach ihrer Verdeckung zu befragen. Die ständige Rekonstruktion einer vergangenen Männlichkeit, die panische Angst vor ihrem Verlust und die nicht allzu sorgfältig versteckte Furcht vor der weiblichen Stärke. Erschrocken blickt er in seinen Filmen auf die barbarischen Reiche wie das antike Rom in „Fellini Satyricon“ („Fellinis Satyrikon“, 1969) und das Böse der Dekadenz; „Satyrikon“, „Il Casanova“, „La citta delle donne“ sind verschiedene Versuche einer mythologischen Reise in matriarchale Welten. Es ist, wie Alberto Moravia gesagt hat, bei aller Fülle dann noch immer wieder der Blick eines christlich-abendländischen Mannes auf die Barbarei, der sich freilich zugleich weigert, von den polymorphen Phantasien einer katholischen Adoleszenz Abschied zu nehmen.

Roberto Rosselini hat über „La dolce vita“ gesagt, das sei der Film eines hoffnungslosen Provinzlers, der von der Dekadenz der Stadt zugleich fasziniert und abgestoßen ist. So wirkt selbst noch die geliebte Pose des „Maestro“ provinziell, die auch durch die Ironie kaum gemildert wird, mit der Fellini sie ausfüllt. Und letztlich nehmen auch die angewandten Jungianismen in Fellinis Filmen nicht gerade für die Bearbeitung der Autobiographie ein. Er ist der Macho auf dem Set, „ein Tyrann, eine Art Gottheit, völlig Herr, nicht nur über die Schauspieler, sondern über alles“ (Fellini). Aber Fellini ist eben nicht nur dieser Reaktionär, sondern auch der unermüdliche Erforscher dieses reaktionären Kosmos, den er wiederum nur retten konnte, indem er ihn permanent (und zu unserem Vergnügen) zerstörte. So beschreibt Fellini seinen Casanova: „Ein typischer Italiener, der nie den Bauch seiner Mutter verlassen hat, ein Gefangener seiner Träume von Leben, das er nie leben wird. Diese leere Hülle agiert in den Kulissen eines Aquariums, einer Unterwasserwelt, in der die Wahrnehmungen verschwimmen, wo alles gedämpft ist, ein fremder und für den Menschen unbewohnbarer Ort.“ Das freilich ist aber auch der Ort namens Fellini, der Ort, den seine Filme zu verlassen suchen und zu dem sie immer wieder zurückkehren.

Bei „Achteinhalb“ hat Fellini für seine Mitarbeiter an die Kamera einen Zettel geklebt: „Vergeßt nicht, daß dies ein komischer Film ist.“ Vergessen wir nicht, daß Fellini komische Filme macht. Er ist mehrfach besetzt, als Autor und Gegenstand seiner Autorenschaft; man mochte ihm glauben, daß er nur an die Lüge glaube, aber das war natürlich besonders gelogen. Die Wahrheit entsteht in Fellinis Filmen nicht als Aussage, sondern als Bewegung.

Immer hat Fellini sich geweigert, am Schluß seiner Filme das Wort „Ende“ zu zeigen. „Das liegt wohl an der Enttäuschung, die ich als Kind im Kino empfand, wenn es schließlich ,Ende‘ hieß. Schluß. Aus. Vorbei. Man konnte nur noch nach Hause gehen und Hausaufgaben machen. Das Wort ,Ende‘ empfinde ich auch als Beleidigung für die Personen eines Films. Sie sollten außerhalb des Films ihr Eigenleben weiterführen.“

Zunehmend schienen sich seine Filme zu weigern, irgendwie aufzuhören. Diese Endlosigkeit überträgt sich auch auf die kritische Reflexion. Wenn man über einen Film von Federico Fellini schreiben wollte, mußte man immer über alle und weit darüber hinaus schreiben. Das ist nun vorbei. Nein, denn seine Filme haben noch lange nicht genug adieu gesagt.

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