: Der „Rachejustiz der Sieger“ verweigert
■ Philosoph Harich droht Beugehaft, weil er Zeugenaussage zu seinem DDR-Schauprozeß verweigert
Eigentlich sollte es um die Wiedergutmachung des von ihm erlittenen Unrechts gehen, doch das Ergebnis ist paradox: Dem Philosophen und Literaturwissenschaftler Wolfgang Harich, der acht Jahre lang im DDR-Zuchthaus saß, droht die bundesdeutsche Justiz nun mit Beugehaft bis zu einem halben Jahr. Weil der 69jährige Harich gestern zum vierten Mal eine Zeugenaussage vor Gericht verweigerte, muß der Vorsitzende der alternativen Enquetekommission zur Aufarbeitung der DDR- Geschichte jederzeit mit seiner Festnahme rechnen. Eine vom Gericht ausgesprochene Ordnungsstrafe in Höhe von 400 Mark hat Harich ebenfalls ignoriert.
Im Herbst 1956 wurde Wolfgang Harich zusammen mit dem damaligen Chef des Aufbau-Verlags, Walter Janka, wegen angeblicher Konspiration gegen die damalige SED-Führung unter Walter Ulbricht verhaftet. In einem Schauprozeß wurde Harich zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt und erst im Dezember 1964 entlassen. Von den am Urteil beteiligten Juristen des obersten DDR-Gerichts lebt heute nur noch der damalige beisitzende Richter Professor Dr. Hans Reinwarth. Ihm wirft die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität nun Rechtsbeugung vor – gemeinsam begangen mit dem Leiter der Abteilung „Staat und Recht“ im SED-Zentralkomitee, Dr. Klaus Sorgenicht, und dem Stasi-Chef Erich Mielke.
Wolfgang Harich, der sich immer als orthodoxer Kritiker der SED verstand und im Januar 1990 Mitgründer der neuen „Kommunistischen Partei Deutschlands“ war, lehnt eine Zeugenaussage prinzipiell ab. Die Strafjustiz sei gänzlich ungeeignet zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte, ist er überzeugt. Sie verhindere lediglich die dringend notwendige nationale Aussöhnung. Außerdem sei das damalige Unrecht längst verjährt; die Ermittlungen also unzulässig.
Die Justiz sieht das anders: Sie stützt sich auf ein Gesetz vom Sommer 1990, welches den Verjährungszeitraum für DDR-Unrecht erst mit der Wende beginnen läßt. Schließlich habe es bis zum Fall der Mauer keine Chance für eine Strafverfolgung gegeben. Dieses Gesetz sei verfassungswidrig, weil es dem Inhalt des Einigungsvertrags zuwiderlaufe, argumentiert dagegen der streitbare Harich. Die angebliche Unrechtbereinigung sei vielmehr von „Rachsucht“ und selbst von „sadistischen Bedürfnissen“ der bundesdeutschen Justiz geprägt. Er weigere sich, dabei zu helfen, die „Rachegesetze der Sieger zu exekutieren“. Deswegen hat Harich auch öffentlich gegen die Prozesse gegen Erich Honecker und Armeechef Heinz Kessler protestiert.
Außerdem, so der im März 1990 vom obersten DDR-Gericht rehabilitierte Harich, habe er die „Belästigung“ mit seinem siebenunddreißig Jahre zurückliegenden Prozeß „satt“. Auch aus gesundheitlichen Gründen – ihm drohe ein Schlaganfall und ein dritter Herzinfarkt – seien ihm Behördengänge nicht zuzumuten.
Das sieht die Staatsanwaltschaft anders: Kein Zeuge könne sich einer Ladung verweigern; dies gelte auch für einen Prominenten wie Harich. Von Justizsprecherin Uta Fölster wird darauf verwiesen, daß man sich in dem Verfahren schließlich nicht den Vorwurf machen lassen möchte, man habe Harich nicht angehört. Die Staatsanwaltschaft sieht sich von Justizsenatorin Jutta Limbach (SPD) unterstützt: Diese bekräftigte, daß Wolfgang Harich notfalls in Beugehaft genommen werde. Intern aber hat man bei der Staatsanwaltschaft durchaus „Bauchschmerzen“ und fragt sich: „Wie kommen wir von dem Pferd bloß wieder runter?“ Gerd Nowakowski
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