: Die gescheiterte Revolution
Von der Entmachtung des monarchischen Regimes in Deutschland / Eine Erinnerung an die USPD, die zwischen KPD und MSPD zerrieben wurde ■ Von Freya Eisner
„Heraus aus den Betrieben! Heraus aus den Kasernen! Reicht Euch die Hände. Es lebe die sozialistische Republik!“ Diesem von dem Berliner Unabhängigen Sozialdemokraten Emil Barth verfaßten Aufruf folgten am 9. November 1918 in Berlin Hunderttausende von Arbeitern und Soldaten. Sie zogen durch die Straßen zum Reichstag.
Der Mehrheitssozialdemokrat Friedrich Ebert, der nach eigenem Bekunden die Revolution haßte wie die Sünde, ließ in einem Extrablatt melden, daß ihm der Reichskanzler Prinz Max von Baden die Wahrnehmung der Geschäfte übertragen habe und er im Begriff sei, eine neue Regierung zu bilden. Er forderte die Menschenmenge auf, die Straßen zu räumen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Da die Demonstranten dem nicht nachkamen, sondern beharrlich unter roten Fahnen auf Plakaten „Frieden! Freiheit! Brot!“ begehrten, mußte Philipp Scheidemann, Mehrheitssozialdemokrat wie Ebert, schließlich das Ende der Monarchie proklamieren und die Republik ausrufen.
Vorangegangen war eine Marinemeuterei, die den von der Admiralität befohlenen Flottenvorstoß gegen England verhindert hatte, und – am 4. und 5. November – die Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrats in Kiel. Die Aufstandsbewegung griff um sich. In München stürzte am 7. November der Unabhängige Sozialdemokrat Kurt Eisner in einer Massenaktion die Dynastie Wittelsbach und proklamierte den Freistaat Bayern.
In der einschlägigen Historiographie, zumal in der sich als progressiv verstehenden, wird die verhältnismäßig undramatische Entmachtung des monarchistischen Regimes in Deutschland wenn überhaupt als Revolution, so als „unvollendete“, als „steckengebliebene“ bewertet, ohne daß konkretisiert wird, wie die Vollendung hätte gestaltet werden können. Mehr oder weniger suggerierend, daß mit radikaler Vehemenz nach dem politischen Umsturz die – wie auch immer verstandene – soziale Revolution durchgeführt worden wäre, lastet man die Schuld an diesem Versäumnis, nicht zu Unrecht, doch die Sachverhalte vereinfachend, der Sozialdemokratie Friedrich Eberts an.
Unerwähnt bleibt dabei stets, daß zwischen den Mehrheitssozialdemokraten, der MSPD, und den Spartakisten beziehungsweise Kommunisten, der KPD, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die USPD, in den Revolutionsmonaten eine konstruktive sozialistische Politik verfolgte, die alternative Wege aufzeigte.
In der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands waren schon vor 1914 Anpassungsneigungen an das kapitalistische System sichtbar geworden. Die Kriegsbejahung und die Kreditbewilligung der Parteimehrheit hatten schließlich zur Spaltung und 1917 zur Konstitutionierung der USPD geführt, die das sozialistische Programm den gegebenen Verhältnissen entsprechend zu verwirklichen versprach. In ihr befanden sich so gut wie alle bedeutenden Parteiintellektuellen. Die USPD wurde indes nicht nur von der MSPD angefeindet; auch die KPD bekämpfte sie.
Zentren des revolutionären Geschehens wurden Berlin und München. Den parteilichen Kräfteverhältnissen gemäß mußte die USPD hier wie dort die Regierungsverantwortung mit der MSPD teilen. So saßen im Rat der Volksbeauftragten in Berlin neben den USPD-Politikern Hugo Haase, Wilhelm Dittmann und Emil Barth die Vertreter der MSPD Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Otto Landsberg. In der bayerischen Revolutionsregierung, der Kurt Eisner vorstand, überwogen die MSPD-Minister. Ebenfalls gemeinsam mit Mehrheitssozialdemokraten übernahmen USPD- Mitglieder im neuen Staatswesen leitende Funktionen in Ministerien und Ämtern.
Für eine vollkommene Umbesetzung des Staatsapparates standen jedoch nicht genügend qualifizierte und änderungswillige Sozialdemokraten zur Verfügung. Es hätte des Einsatzes auch der kommunistischen Intellektuellen bedurft, um im Ansturm der revolutionären Aktion, in Ausnutzung des Überraschungsmoments die hohen Beamten des alten Regimes im Handstreich durch Sozialisten zu ersetzen. Doch die Kommunisten verweigerten die Mitarbeit. Unter Führung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs wollten sie die Revolution weitertreiben und riefen zu Massenstreiks auf.
Die Pressionen der Siegermächte engten den politischen Handlungsspielraum, insbesondere für eine Umgestaltung der Wirtschaft, erheblich ein. Gleichwohl war die USPD entschlossen, nach Konsolidierung sozialdemokratischer Macht im Reich, in den Ländern und großen Städten kraft revolutionären Rechts eine „demokratische Organisierung des ökonomischen Lebens“ ins Werk zu setzen. Nach den Vorstellungen Rudolf Hilferdings, des Wirtschafts- und Finanzexperten der USPD, sollten sozialistische Gemeindevertretungen „gewisse private Betriebszweige in Gemeindeeigentum umwandeln“. Das Gemeindeprogramm der sächsischen Unabhängigen sah die Kommunalisierung aller gewerblichen Unternehmen vor, die den „allgemeinen Bedürfnissen der Gemeinde“ dienten. Gedacht war vornehmlich an die Kommunalisierung des Wohnungswesens.
USPD-Mitglied Karl Kautsky, der als Vorsitzender der auf Betreiben der USPD eingerichteten Sozialisierungskommission in Berlin fungierte, schlug vor, die zur Sozialisierung reifen Industriezweige jeweils von einem Kollegium verwalten zu lassen, in dem in Drittelparität Vertreter des Staates, der Arbeiter der betreffenden Branche und der organisierten Abnehmer einvernehmlich die Produktion regeln sollten.
In München intendierte Kurt Eisner eine „Verstaatlichung unter demokratischer Kontrolle“, vor allem der Schwerindustrie und der Bergwerke, sowie Formen gemischtwirtschaftlicher und gemeinwirtschaftlicher Unternehmen. Doch sollte kein „staatsbürokratischer Kapitalismus“ geschaffen, vielmehr die „Privatinitiative aller Arbeitenden psychisch sozial in den Dienst der Gesamtheit gestellt werden“.
Der Sozialisierungs- beziehungsweise Verstaatlichungsgedanke, der auch die Genossenschaftsidee als ökonomisches Gestaltungsprinzip einbezog, gründete in der Annahme, daß sich in einer von der Gesellschaft für die Gesellschaft betriebenen Produktion, in der nicht Profitinteressen, sondern der Bedarf der Allgemeinheit Auswahl und Qualität der Güter bestimmten, Gemeinschaftsgeist entwickeln werde, so daß weder Schlendrian zu befürchten sei noch die in der Privatwirtschaft übliche, ihr praktisch immanente Korruption. Doch bedachten die USPD-Politiker, daß Sozialisierung im eigentlichen Sinn, „die Organisation der Produktion und Konsumtion ohne Dazwischenkunft des Kapitals“, ein überaus kompliziertes Verfahren darstelle und nur in globaler Kooperation erfolgen könne.
Psychologisch schien ihnen die Zeit für eine auf nationaler Ebene zu bewerkstelligende Umgestaltung des Wirtschaftslebens insofern günstig zu sein, als tatsächlich, wie Hilferding feststellte, die kapitalistischen Unternehmer damit rechneten, „daß ihre Tage abgelaufen sind“. Zudem wuchs in weiten Kreisen der Bevölkerung die Einsicht, daß politische Mitbestimmung die ökonomische einzuschließen habe. Die seelische Erschütterung durch den Krieg, den man damals schon „Völkermord“ nannte, machte viele Menschen empfänglich für Impulse gesellschaftlicher Erneuerung.
Hingegen waren die MSPD-Politiker, die mit den noch amtierenden Machtträgern des kaiserlichen Regimes paktierten, nicht gewillt, grundlegende Reformen in Angriff zu nehmen. Hugo Haase schöpfte den Verdacht, der sich bald bestätigte, daß Ebert auch mit den Militärs der alten Staatsmacht in Verbindung stehe. Im bayerischen Ministerrat stießen Eisners Umgestaltungsvorhaben ebenfalls auf Ablehnung der mitregierenden Mehrheitssozialdemokraten. Auch sie konspirierten mit den Gegnern der Revolution.
Auf der anderen Seite initiierten die Kommunisten spektakuläre Massenaktionen, die sich gegen den Rat der Volksbeauftragten richteten. In München agitierten Anarchokommunisten wie Erich Mühsam die Arbeitslosen gegen Eisners Revolutionsregierung. Diese Umtriebe veranlaßten nicht nur die MSPD-Politiker zu noch engerem Zusammenschluß mit den Vertretern des alten Regimes, sie verschafften auch den extremen Rechten Zulauf, die zum Putsch rüsteten.
Was die Kommunisten forderten, nämlich die „Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere sowie der Soldaten, die nicht auf dem Boden der neuen Ordnung stehen“, und die „Bewaffnung des Volkes“, war unerfüllbar, da sich nicht zuverlässig bestimmen ließ, wer „auf dem Boden der neuen Ordnung“ stand und wer zum „Volk“ gehörte – ob etwa auch die Mitglieder der MSPD bewaffnet werden sollten.
Auch die von den Kommunisten geforderte Beseitigung aller Parlamente und die Übernahme der Regierung durch den Berliner Arbeiter- und Soldatenrat unter dem Kampfruf „Alle Macht den Räten“ verfehlte die Realität. Denn die Räte, die sich während der Revolution in allen Städten und Gemeinden Deutschlands spontan gebildet und improvisatorisch der öffentlichen Belange angenommen hatten, wünschten in ihrer überwiegenden Mehrheit nicht „alle Macht“ zu erhalten. Zudem besaßen sie weder Erfahrung in politischem Entscheidungshandeln, noch wären sie in der Lage gewesen, Legislative, Exekutive und Judikative in ihren Händen zu vereinen, wie die Kommunisten verlangten.
Die regierenden Mehrheitssozialdemokraten wiederum betrachteten die Räte – im Gegensatz zu einem Großteil ihrer Mitglieder – nur als „Notbehelf für die Übergangszeit“. Sie prägten die den politischen Faktizitäten nicht gerecht werdende Formel: „Hie Demokratie durch die konstituierende Nationalversammlung – da die Diktatur durch die Arbeiter- und Soldatenräte!“ Ebenso undifferenziert agitierten die Kommunisten mit der Parole: „Für oder gegen den Sozialismus, gegen oder für die Nationalversammlung: ein Drittes gibt es nicht!“
Demgegenüber entwarf Kurt Eisner das Modell einer Kombination von Räten und Parlament, in der die Räte als basisdemokratische, multifunktionale Komponente zum Parlament diese zur Verselbständigung tendierende Institution verlebendigen sollten. Da er der Überzeugung war, „daß die Schäden der Demokratie nur durch mehr Demokratie überwunden werden können“, setzte er sich für die Verankerung des Referendums in die Verfassung ein, mit dessen Initiiierung er die Räte betrauen wollte. Eisners Rätekonzeption, die sich in der Praxis erst hätte entfalten und bewähren müssen, hielten seine Parteifreunde, aber auch viele Mehrheitssozialdemokraten für ein geeignetes Instrument zur Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft.
Vorbild der Kommunisten waren natürlich die Bolschewiki. Deren Herrschaftspraktiken freilich boten sich den MSPD-Politikern als Negativbeispiel dar, mit dem sie die Preisgabe des sozialistischen Umwandlungsziels rechtfertigen konnten. Die bolschewistische Machtaneignung im Oktober 1917, viel mehr noch die gewaltsame Auflösung der russischen Konstituante, in der die sozialistischen Parteien (Sozialrevolutionäre, Bolschewisten und Menschewisten) über eine Mehrheit von 87 Prozent verfügten, hatten indes auch die Unabhängigen Sozialdemokraten irritiert. Kurt Eisner forderte eine „scharfe Scheidung von den Methoden der Bolschewiki und ihres deutschen Nachtrabs“. Schon 14 Tage nach der Revolution hatte er den Kommunistenführer Karl Liebknecht ersucht, seine aufrührerische Propaganda einzustellen und sich am Aufbau einer sozialistischen Ordnung zu beteiligen. Doch Liebknecht beharrte auf dem Ceterum censeo der Kommunisten, daß erst „alles vollkommen niedergerissen“ werden müsse. Kurt Eisner zog hieraus das resignative Fazit: „Die Revolution scheitert. Ohne Liebknecht wäre nie alles gescheitert.“
Das Scheitern nahm denn auch seinen Fortgang. Aktivitäten einer Gruppe kommunistisch orientierter Funktionäre in der USPD untergruben die ohnehin schwache Stellung der USPD-Volksbeauftragten vollends. Nachdem es am 24. Dezember 1918 zu Straßenkämpfen zwischen um ihre Löhnung besorgten Matrosen und von Ebert eigenmächtig eingesetzten Militärs gekommen war, führte der Streit darüber zum Austritt der USPD-Politiker aus dem Rat der Volksbeauftragten.
Anfang Januar 1919 organisierten die Kommunisten Demonstrationen, die sich im Spartakus-Aufstand zur Revolte steigerten. Der Mehrheitssozialdemokrat Gustav Noske ordnete die blutige Niederschlagung an. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden ermordet.
Die bürgerliche und die mehrheitssozialdemokratische Presse, die schon unmittelbar nach der Revolution mit der Diskriminierung der USPD und der Kommunisten begonnen hatten, schürten Aggressionen. Mit einer Herabwürdigung Kurt Eisners, die die bürgerlichen Zeitungen nachdruckten, hatte das MSPD-Organ Vorwärts den Rufmord eingeleitet, dem das tödliche Attentat auf Eisner im Februar 1919 folgte.
Hatte die USPD bei den Wahlen im Januar 1919 nur 2,2 Millionen Stimmen erhalten – die MSPD 11,2 –, so brachten ihr die Gemeindewahlen, die wenig später in Deutschland stattfanden, gewaltige Stimmengewinne. In manchen großen Städten – so in Berlin und München – überflügelte sie die MSPD. Desavouiert jedoch von den verbürgerlichten Mehrheitssozialdemokraten und unterminiert von den Kommunisten, die zu der von Lenin und Trotzki inzwischen gegründeten Kommunistischen Internationale strebten, vermochte sie ihre mittlere Position einer transformativen sozialistischen Politik nicht mehr zu behaupten. Die vom politischen Umsturz geschaffene Gelegenheit, radikale Reformen, vor allem im Bereich der Wirtschaft, einzuleiten, war verstrichen. Die Restauration setzte sich durch.
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