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Faustus' satanische Ferse

■ Blaumeiers hinreißend diabolisches Goethespektakel in der Oldenburger Kulturetage / Eine Ode

„In dubio pro libido“. Wer mag zweifeln, hadern, traurig sein? Auf der Bühne toben Gestalten, bunt und groß und schön, zu einer Sinfonie der Lust und guten Laune. Sie tanzen und feiern, sprechen und schreien, und sind dabei so hinreißend, anregend und elegant. Und wir, wir sitzen vor ihnen, mit großen Augen und offenem Mund, wir lachen und klatschen und staunen, wie es eigentlich nur Dreijährige tun, im Angesicht von Kaspar, Seppi und dem bösen Krokodil: Die AkteurInnen von „Blaumeier“, Bremens „Projekt Kunst und Psychatrie“, kennen einfach keinen Respekt vor den Klassikern.

Aus Goethes bedeutungsschwangerer Tragödie „Faust, erster Teil“ machen sie vor unseren Augen in der vollbesetzen Oldenburger Kulturetage ein skurilles Festival der Phantasie: Da tänzelt ein Knallteufel werfender Memphisto (Walter Koch) unter der Nase des Herrgotts, Kopfgröße fünf Meter mal Einsfünfzig; es schiebt das blondzöpfige Gretel (Paula Kleine) ihr Riesenbaby zum Chor der Engel auf der Bühne hin und her („Doch haben sie nicht aufgepasst — schon schiebt sie ihre süße Last“), während ihr Tantchen (Giesela Meyer) den diabolischen Verführer nach Hause zerrt: „Fast Faust“, Theater, Spuk, Spektakel.

Die „Blaumeiers“, sogenannte „Normale“ und sogenannte „Kranke“, 60 an der Zahl, demonstrieren spielerisch, wie fließend die Grenzen zwischen diesen Kriterien sind. Wer bitteschön im Ensemble ist Betreuer, wer Betreuter? Walther Koch als Memphisto, klar, der hält das Geschehen zusammen und greift ein, wenn die Dialoge auf der Bühne zu entgleisen drohen, weil die Begeisterung des Publikums überschwappt auf die DarstellerInnen. Aber der Rest? Die „Blaumeier“-AkteurInnen präsentieren während dieser eineinhalb Stunden die andere, die bessere Welt. Tatsächlich, ein „großes Goethöse“, wie in der Ankündigung versprochen. Musik, herrlich schräg und schaurigmelodisch, untermalt Bilder voller Farbe und Vitalität: Feurigrote Teufelchen beim Höllentanz zwischen Feuer und beißendem Rauch; fette, gröhlende, japsende, besoffene Spießer im Wirtshaus; der altehrwürdige Doktor Faust schließlich zwischen überdimensionalen Lehrbüchern („Die satanische Ferse“). Memphisto und seine Schwester Meta Phista (Heike Grohte) entpuppen sich buchstäblich als „des Pudels Kern“...

Am Schluß stehen die „Blaumeiers“ vor uns, alle Sechzig, und winken mit Rosen, die sie für den scheidenden Musiker Pago Besorgten. Wir stehen auf und klatschen uns die Hände wund — nicht artig, weil wir uns etwa verpflichtet fühlen, sondern ehrlich ergriffen: Noch nicht aufhören, geht nicht weg, noch nicht, macht weiter! Sie freuen sich, lachen, manche haben Tränen in den Augen, und tun uns den Gefallen, singen noch ein letztes mal: „In dubio pro libido“. Aber wir denken gar nicht daran, zu zweifeln. „Fast Faust“ — das ist das pure Vergnügen.

Jens Breder

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