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Besänftigter Kollaps?

Der Alpentourismus wächst weiter. Eine Abkehr vom harten Tourismus findet nur dort statt, wo das Wachstum an seine Grenzen gestoßen ist.  ■ Von Dominik Siegrist

Die Alpen sind eine der wichtigsten Tourismusregionen der Welt. Um die hundert Millionen Menschen besuchen sie alljährlich und geben dabei schätzungsweise 50 Milliarden Dollar aus. Ein großer Teil der zwölf Millionen Alpenbewohner und Alpenbewohnerinnen sind direkt oder indirekt vom Geschäft mit den Fremden abhängig. Werden die betroffenen Menschen in den Tourismusregionen, die Bereisten, ein weiteres Anwachsen der Gästezahlen widerstandslos hinnehmen?

Eine Reihe von dynamischen Wachstumszentren umschließt die Alpen. Im Raum Lyon/Genf, der Großregion Mailand/Turin, dem schweizerischen Mittelland und dem süddeutschen Raum, in Südbayern mit München und in der Agglomeration Wien lebt zusammengenommen ein Mehrfaches der Alpenbevölkerung. Von diesen Zentren aus erwächst der von ihnen umschlossenen Gebirgsregion eine immer stärkere Belastung. EG-Bürokraten bezeichnen die Alpen schon heute als die bevorzugte europäische Ferienregion, die entsprechend gefördert und ausgebaut werden soll. Und die herrschende Mobilitätsideologie wird ihren Teil dazu beitragen, daß sich der Gästestrom Richtung Alpen in den nächsten Jahrzehnten mindestens nochmals verdoppeln wird. Was harter Tourismus im Extremfall bedeutet, zeigt das Beispiel der französischen Tarentaise mit ihren 300.000 Betten, hochalpinen Retortenstädten und Ski-Arenen. Aber auch im noblen Engadin stehen bereits 50.000 Betten für die Gäste bereit, das sind fünfmal mehr als in der Touristenstadt Zürich.

Der Wintersport, so wie er heute betrieben wird, ist die alpentouristische Sparte mit den negativsten Auswirkungen. Häufig wird gesagt, daß der Skitourismus dafür auch am meisten Geld in die Bergtäler bringe. Doch auch der Sommertourismus hinterläßt seine Spuren. Ein großer Teil der jährlich rund 60 Millionen Wochenendausflügler kommt in der warmen Jahreszeit. Motorisierte Blechkarawanen, die sich im Rückreiseverkehr kilometerlang stauen, sind die Folge davon. Wer auf den öffentlichen Verkehr verweist, muß Tatsachen zur Kenntnis nehmen wie diejenige, daß heute immer weniger Menschen mit der Bahn in ihre Bergferien fahren, dafür immer mehr mit dem Auto und sogar mit dem Flugzeug.

Einen harten Sommertourismus bringt die rasante Entwicklung des „neuen Alpensommers“, gemeint ist die starke Zunahme von landschaftsungebundenen Ferienaktivitäen wie Tennis, Schwimmen im Hallenbad oder Golf, um nur einige Beispiele zu nennen. Auch landschaftsintensive neue Alpensportarten wie Mountainbiking, Rafting oder Gleitschirmfliegen belasten das labile alpine Ökosystem immer stärker.

Ein ungelöstes Problem sind die zahlreichen Zweitwohnungen, die einen viel schlechteren Nutzungsgrad aufweisen als die Hotellerie. Durch gestiegene Bodenpreise hat sich das Wohnungsproblem für die Einheimischen massiv verschärft. Die Mieten sind in den letzen Jahren in den Bergen vielerorts in städtische Höhen geklettert. Wo heute langsam ein Umdenken in Gang kommt und von Gemeinden der Bau günstiger Wohnungen für die Einheimischen gefördert wird, fehlt oft der nötige Boden: Er ist in den vergangenen Jahrzehnten verspekuliert worden.

Für den Berner Tourismusspezalisten Jost Krippendorf ist ein klares Bekenntnis zu neuen Prioritäten die Voraussetzung für eine Umstellung auf den sanften Tourismus: Im Mittelpunkt sollen die Menschen stehen. Wichtig ist der gleichgewichtige Einbezug der Forderungen nach wirtschaftlicher Ergiebigkeit, nach intakter Umwelt sowie nach Berücksichtigung der Bedürfnisse aller beteiligten Menschen, insbesondere auch der einheimischen Bevölkerung.

Zwar gibt es heute in den Alpen eine ganze Reihe alternativer Nischen: Von der ökologisch geführten Ybbstaler Hütte des Österreichischen Alpenvereins in Niederösterreich über das Bildungs- und Ferienzentrum Salecina in Graubünden bis zum Centro Culturale Borgata im Valle Maira funktionieren Modelle von Ferien- und Bildungshäusern. Doch von einer Trendwende kann nicht gesprochen werden: Der Anteil alternativer Projekte ist verschwindend klein.

Einen wichtigen Stellenwert erhalten sie jedoch als Ideenwerkstätten und Experimentierfelder. Man kann heute an einigen Orten einen verträglicheren Tourismus erleben: zum Beispiel im Osttiroler Virgental, im Puschlav und in Vals in Graubünden, im Obergoms im Wallis und in Bonneval sur Arc in Savoyen.

Die Verbreitung der mit sanften Ansätzen gemachten Erfahrungen, z.B. bei der engeren Zusammenarbeit zwischen Tourismus und Landwirtschaft, ist für die touristische Zukunft der Alpen von großer Bedeutung. Untersuchungen im Virgental und im Obergoms zeigen nämlich, daß solche Regionen heute aufgrund ihrer sanften Ausrichtung über eine stark sensibilisierte Gästestruktur verfügen.

Tatsächlich kommt eine sanfte Tourismusstrategie nicht für alle Regionen gleichermaßen in Frage. Skiregionen mit Weltruf wie St. Moritz im Engadin oder Val d'Isère in Savoyen können nicht von heute auf morgen ein sanftes Tourismusmodell übernehmen. Es ist darum nicht sinnvoll, die beiden Ansätze gegeneinander auszuspielen – beides muß weiter verfolgt werden: die Besänftigung harter touristischer Strukturen ebenso wie die verstärkte Förderung sanfter Ansätze.

Reformen des bisherigen harten Tourismus werden für viele Orte zur puren wirtschaftlichen Notwendigkeit. Als größtes Problem wird der Straßenverkehr wahrgenommen, dessen Ausmaß dem Fremdenverkehr unterdessen mehr schadet als nützt. Orte, die keine Ideen und Maßnahmen für Verkehrsbeschränkungen entwickeln, müssen schon heute mit Gästeeinbußen rechnen. Das Beispiel der Befragung italienischer Südtirolgäste zeigt, daß diese die Alpen den verschmutzten Mittelmeerküsten als Ferienregion vorziehen.

„Unser touristisches Kapital ist die intakte Landschaft.“ Diese Erkenntnis des Gemeindepräsidenten Moritz Schmid aus Vals im Kanton Graubünden scheint sich alpenweit langsam durchzusetzen. Eine direkte Folge davon ist die gegenwärtige Zurückhaltung beim Neubau von Seilbahnen und Liften. In der Schweiz scheint sich eine restriktivere Bewilligungspraxis durchzusetzen, bei der keine Neuerschließungen mehr möglich sind. In Tirol herrschte eine Zeitlang ein eigentlicher Krieg zwischen den Liftgesellschaften und der Landesregierung, die zunehmend dazu neigt, noch intakte Landschaften unter Schutz zu stellen. In den französischen Alpen hat die Marktsättigung sogar dazu geführt, daß einige der großen Skistationen rote Zahlen schreiben.

Untersuchungen in der Schweiz und in Österreich haben gezeigt, daß Verkehrslärm und -gestank oft als negativstes Urlaubserlebnis mit nach Hause genommen werden. Und immer mehr Alpengäste sind bereit, einem Komfortverzicht zugunsten von Verkehrsbeschränkungen zuzustimmen. Angesichts der zunehmenden Sensibilisierung erstaunt es nicht, daß die vergleichsweise intakte Umwelt in den Alpen zum wichtigsten Werbeargument im Tourismus geworden ist.

Ein wichtiger Motor der Besänftigung sind oppositionelle Gruppierungen und Bürgerlisten, die in den letzten Jahren in fast allen großen Tourismusregionen der Alpen gegründet wurden. Doch genügen die sich abzeichnenden Besänftigungstendenzen, um die Alpen vor dem Kollaps zu bewahren? Vermutlich werden tiefgreifendere Veränderungen nötig sein, die weder die Alpenregion selber noch die einzelnen Alpenländer allein ergreifen können. Von grundsätzlicher Bedeutung ist dabei, ob es mittelfristig gelingen wird, die nach wie vor zentralen Werte Wachstum und Mobilität zu verabschieden.

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