: „Der Kapitalismus hat nicht gesiegt, er ist übriggeblieben“
Ein Interview mit Gregor Gysi über Ostdeutsche und Westdeutsche, die rechte Gefahr und die Linke, die PDS und andere Parteien ■ Von Michael Sontheimer und Antje Vollmer
taz: Was bedeutet es für Sie, in diesen Tagen ein Ostdeutscher zu sein?
Gregor Gysi: Zum einen eine Anforderung, mit mir selbst und mit meiner Biographie umzugehen, zum anderen, den Versuch zu unternehmen, den Ostdeutschen zu mehr Selbstbewußtsein zu verhelfen.
Wie?
Ich versuche bei allen öffentlichen Auftritten, sei es im Bundestag oder in den Medien, möglichst Selbstbewußtsein auszustrahlen. Als ich das erste Mal in den Bundestag kam, hatte ich durchaus alle üblichen Minderwertigkeitskomplexe. Das ganze Terrain war mir fremd. Aber ich wußte, daß fast alle Ostdeutschen Minderwertigkeitskomplexe hatten und habe es mir richtig zur Aufgabe gemacht, sie nicht zu zeigen; notfalls sogar eine arrogante Miene aufzusetzen, auf jeden Fall zu beweisen, daß man nicht zwingend unter dem Teppich durchmuß, sondern daß man mit erhobenem Haupt Widerspruch anmelden kann.
Sie waren aber auch so ziemlich der einzige Ostdeutsche, der west- diskursfähig war, der mit Witz und Ironie ohne den selbstmitleidig- provinziellen piefigen Zug auftrat.
Ich hatte es auch leichter, denn meine Familie hatte einen sehr internationalen Freundeskreis. Wir hatten eine internationale Bibliothek. Zudem hat mein Beruf als Anwalt dazu beigetragen, eher im Widerspruch geübt zu sein, übrigens auch, in hoffnungslosen Situationen Widerspruch zu üben. Mit das Unangenehmste für mich war es, im Bundestag zu erleben, wie Abgeordnete anderer Fraktionen, speziell die der CDU/CSU und der FDP aus Ostdeutschland, nach vorn gingen und sich erst einmal für die große Ehre bedankten, in diesem Haus überhaupt reden zu dürfen.
Der Minderwertigkeitskomplex ist eine Seite, die andere Seite ist die der Depression und der Verzweiflung, die aus alltäglichen realen Erfahrungen rühren. Was ist für Sie heutzutage das Demütigendste oder der sinnfälligste Beweis dafür, daß sie einer minderwertigen Spezies angehören sollen?
Das Schlimmste für die Ostdeutschen ist, daß sie instinktiv spüren, wie sie in eine Sündenbockrolle auf allen Ebenen hineingedrängt werden. Ihnen wird das angelastet, was allen Deutschen mißfällt, einerlei ob es die Kürzung von Sozialleistungen, der Abbau von Rechten oder die Erhöhung von Steuern ist. Erst bist du als Ostdeutscher scheinbar gewollt, dann kommst du hinzu, und dir wird jeden Tag in der Zeitung mitgeteilt: Du bist eigentlich schuld daran, daß es den Menschen in Wuppertal schlechter geht. Was die Ostdeutschen auch demütigt, ist der Umgang mit ihrer Geschichte, der sich aus ihrer Sicht so darstellt, daß sie eigentlich vierzig Jahre falsch gelebt, falsch geliebt, falsch gedacht, falsch gehandelt haben. Für die Menschen, die zumindest versucht haben, sehr bewußt zu leben, ist das ein unwürdiger Umgang mit ihrer Biographie.
Aber es gibt – auch wenn dies zugleich ein Klischee ist – doch auch eine Gier in Ostdeutschland, die unmäßig ist. Oder ein Selbstmitleid, das unerträglich ist, eine Bequemlichkeit, auch etwas Piefiges.
Zum einen widerspreche ich immer der verlockenden Tendenz zur Nostalgie, obwohl ich weiß, daß ich politisch dafür keinen Beifall bekomme. Zum anderen kann ich die Charakterisierung der Ostdeutschen so nicht akzeptieren, besonders wenn sie in Widerspruch zu den Westdeutschen gestellt wird. Selbstmitleid ist, besonders auch unter westdeutschen Linken, weit verbreitet. Bei den Ostdeutschen gibt es auch viele Züge, die ich schätze und bei denen ich mit großem Bedauern feststelle, daß sie abgebaut werden. Wir waren eben, auch wenn es scheinbar im Widerspruch zu den IMs und dem allen steht, keine Ellenbogengesellschaft. Ich beobachte das auch mit einer gewissen Trauer, wie sich viele jetzt umstellen, aber ich merke auch, wie schwer es ihnen fällt und wie sie sich noch genieren. Ich würde auch kein einseitig negatives Urteil über die Westdeutschen zulassen. Aber es gibt einfach eine Benachteiligung Ostdeutscher, weil sie Ostdeutsche sind, unabhängig von ihrer sozialen Stellung. Das geht vom Unternehmer bis hin zur Sozialhilfeempfängerin. Gegen diese Benachteiligung trete ich immer auf.
Eine ethnische Diskriminierung.
Es existiert eine juristische, eine politische, eine moralische, eine ökonomische, eine soziale, eine psychische Benachteiligung. Ich treffe inzwischen öfter in den neuen Bundesländern Menschen, die mir sagen: „Im Grunde genommen haben Sie und andere uns das damals alles gesagt, und wir wollten es nicht glauben.“
Sie haben mal in einem Interview mit der Schweizer „WOZ“ gesagt, das deutsche Kapital habe sich immer totsiegen müssen. Haben Sie zunächst eine langfristigere und humanere Strategie für den Osten bei der Wirtschaft vermutet, als sie dann tatsächlich angewandt worden ist?
Nein, aber ich habe mehr Korrekturen durch die Politik erwartet. Die deutsche Wirtschaft kannte auch zu ihrem eigenen Unglück, wenn sie expandierte, nie eine Grenze.
Aber im Moment siegt sich das deutsche Kapital nicht im Osten tot, sondern es weicht scheu zurück.
Das sehe ich anders. Das deutsche Kapital geht in die Tschechische Republik. Es versucht, bis nach Rußland zu gehen, und da kann Ostdeutschland stören. Deshalb ist es durchaus im Interesse des deutschen Kapitals, daß hier keine Konkurrenz entsteht, und das zu verhindern ist auch eine Strategie.
Warum sollte das deutsche Kapital auch in Ostdeutschland investieren, wenn es über die tschechische Grenze nicht viel weiter ist, aber dort günstigere Bedingungen zu finden sind?
Dafür gibt es keinen vernünftigen Grund. Das heißt, der Staat müßte solche Rahmenbedingungen schaffen, daß es einen vernünftigen Grund gäbe, oder er hat öffentlich zu investieren. Wenn er beides unterläßt, ist das ein bewußtes Versagen der Politik. Daß das Kapital patriotisch handelt, kann doch höchstens eine naive Vorstellung von Herrn Kohl sein, mit Sicherheit nicht meine.
Wir verfügen jetzt über vier Jahre Erfahrung, wozu die Politik nicht in der Lage oder willens ist. Haben Sie dennoch Hoffnungen, daß es zu Korrekturen kommen könnte?
Wenn ich diese Hoffnung nicht hätte, würde ich einfach hier einpacken und nach Hause gehen. Ich sage mir, es kann sich so zuspitzen, daß die Regierung im eigenen Interesse andere Rahmenbedingungen setzt, allein weil sie keine sozialen Erruptionen will.
Sind die im Osten noch zu erwarten?
Das kann ich nicht einschätzen, weil hier im Osten vieles unberechenbar verläuft. Die PDS hat ein Potential von 30 Prozent in Ostberlin, und hier sind bestimmt nicht weniger Betriebe dichtgemacht worden als im Eichsfeld. Aber der wirkliche Protest kam aus Bischofferode, dem katholischen, ganz und gar schwarz gewählt habenden Eichsfeld, und nicht etwa aus Ostberlin. Ich weiß auch nicht, wie die Prozesse in Westdeutschland weiterlaufen. Vielleicht setzt sich die Erkenntnis durch, daß der Hauptunterschied der zwischen Oben und Unten und nicht der zwischen Ost und West ist.
Welche ist Ihre Position in der Debatte über die Angleichung von Renten und Löhnen im Osten angesichts sehr unterschiedlicher Produktivität, und was sagen Sie zum Vorschlag der Viertagewoche?
Sie illustrieren, wie in den Köpfen die Spaltung funktioniert. Wir werden immer wieder aufgefordert, alles gesamtdeutsch zu sehen, nur bei der Produktivität sollen wir plötzlich wieder einteilen in die zwei ehemaligen deutschen Gebiete und die Produktivitätsentwicklung im Osten im Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung im Westen völlig getrennt sehen. Ich könnte das auch nach Branchen differenzieren, aber plötzlich setze ich hier eine Ost-West-Schere an. Ein anderes Argument: Du kannst nicht im Ernst bei den Kosten im Osten Westniveau einführen und bei den Löhnen Ostniveau belassen. Es ist bei uns fast alles inzwischen teurer, außer Mieten und zum Teil noch öffentliche Verkehrsmittel. Das ist mit den Renten, mit dem Übergangsgeld, mit dem Arbeitslosengeld, mit der Sozialhilfe, mit den Löhnen irgendwann nicht mehr bezahlbar. Wenn die Löhne und Renten im Osten nicht steigen, müßte der Staat rigoros eingreifen und die Kosten im Osten künstlich gedämpft halten. Warum fragt eigentlich kein Mensch: Was haben die Unternehmer in den letzten Jahren mit ihren Gewinnen unter anderem auch aus der deutschen Einheit gemacht? Keiner fragt: Was geschieht mit den Spekulationsgewinnen mit Immobilien? Jeder fragt, was eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer verdient, keiner fragt, was im Management verdient wird. Keiner fragt, was die eigentlich dafür leisten, was die für neue Ideen entwickelt haben oder wie lange die Urlaub machen. Vielleicht ist deren Arbeitszeit zu kurz?
Eine Arbeitszeitverkürzung deckt sich durchaus mit unseren Vorstellungen, um mehr Menschen Arbeit zu geben. Nur Lohneinbußen von 20 Prozent sind völlig unakzeptabel.
Wir sind uns im Befund über die mentale und materielle Misere im Osten einig. Ein Blick in die jüngere Geschichte lehrt, daß sich unter solchem Druck die Deutschen im Zweifelsfall nach rechts bewegen. Was ist gegen die rechte Gefahr zu tun?
Ich habe das von Anfang an als Gefahr gesehen, aber es ist noch schlimmer gekommen, als ich es befürchtet habe. Es war klar, daß der Nationalismus wieder salonfähig werden würde. Zudem konnte man angesichts des Zerfalls der Sowjetunion mit größeren Migrationsproblemen rechnen. Dann kam noch etwas anderes hinzu, wovor ich immer gewarnt habe, wenn ich sagte: Es wird Jugendliche geben, denen die autoritären Strukturen der DDR fehlen werden. Das Schlimmste allerdings: Je mehr Menschen an den Rand einer Gesellschaft gedrängt werden, um so größer sind die Chancen des Rechtsextremismus, weil er ihnen über den Nationalismus Selbstwertgefühl anbietet. Du bist scheinbar nichts, spürst die Verachtung der Gesellschaft, und dann kommt einer und sagt: Du bist Deutscher. Damit bist du schon mal mehr wert als Milliarden Menschen auf dieser Welt.
Was soll beispielsweise mit den deklassierten Jugendlichen geschehen?
Es gibt nicht die eine wirkungsvolle Maßnahme. Ich finde es ein bißchen happig, Neonazis nach Israel zu schicken, denn wir können nicht auf Kosten der Israelis unsere Probleme lösen. Aber selbst wenn das etwas bewirkt, werden sie ihre Einstellung gegenüber Sinti und Roma oder Polen behalten, und wohin sollen wir sie dann noch verschicken lassen? Wir müssen uns darüber klar sein, daß wir kein Recht haben, das Selbstbewußtsein junger Menschen ständig abzubauen. Diese Sprüche vom Freizeitpark und daß jetzt mal alle die Ärmel aufkrempeln sollen, sind gefährlich, wenn gleichzeitig immer mehr Menschen keine vernünftige Bildung, keine Arbeit und keine bezahlbare Wohnung angeboten wird. Natürlich sind die Schließungen der Freizeit- und Kultureinrichtungen im Osten eine strategische Katastrophe. Wir haben neun Kultureinrichtungen in meinem Wahlkreis Hellersdorf, davon machen sieben im nächsten Jahr dicht. Wir müssen aber auch vorhandene Ängste ernst nehmen und brauchen deshalb eine Aufklärungskampagne über die Vorzüge einer multikulturellen Gesellschaft. Die Überwindung von Massenarbeitslosigkeit und Wohnungsnot ist jedoch die entscheidende Voraussetzung zur Bekämpfung des Rechtsextremismus.
Werden Sie als Jude von Rechten speziell angegangen?
Ja. Und das ist etwas, wogegen ich mich nicht wehren kann. Wenn mich jemand angeht: „Ihr Roten habt alles versaut“, kann ich damit umgehen, aber nicht, wenn einer ruft: „Jude raus“. Insgesamt habe ich heute viel weniger Störungen bei Veranstaltungen als 1990, aber es passiert, daß bei einer Kundgebung 150 Neonazis anmarschieren, mit Hitlergruß. Schlimm ist dann, zu sehen, wie ängstlich die anderen reagieren, obwohl sie viel, viel mehr sind. Ich versuche ihnen Rückgrat zu geben, indem ich stehenbleibe und weitermache. Aber das ist nicht einfach.
Sie sind Ostdeutscher, Jude und dann auch noch Kommunist.
Ich bin demokratischer Sozialist. Für mich war dabei das wichtigste das Ablegen jeder Avantgarde-Theorie, weil diese immer die Legitimation für die Errichtung einer Diktatur bedeutete. Ich denke, demokratischer Sozialismus ist nur mit demokratischen Mitteln zu erreichen. Auch die Linken haben die verdammte Pflicht und Schuldigkeit, sich der Mühe zu unterziehen, eine Mehrheit in der Gesellschaft zu überzeugen.
Die taz beispielsweise hat immer von einer linken Position aus den realen Sozialismus scharf kritisiert, aber dennoch leidet sie auch unter dem globalen Rollback, welches das Ende des sozialistischen Blocks mit sich gebracht hat und was inzwischen schon Anspruch auf soziale Gerechtigkeit hinwegzuwischen droht.
Es hat auch die Sozialdemokratie in Europa mit erwischt. Ich glaube, wir werden jetzt erleben, daß bestimmte Erfahrungen im Realsozialismus von unschätzbarer Bedeutung sind. Zum Beispiel daß diese Gesellschaft hat existieren können mit viel kleineren sozialen Unterschieden, daß sie zwar keine politische, aber eine soziale Chancengleichheit beim Zugang zu Kultur, Bildung und Gesundheitswesen organisiert hat.
Es geht Ihnen um die Rettung dieser Werte?
Der Realsozialismus ist an seinen Defiziten in Effizienz, Ökologie und Demokratie gescheitert. Die sozialen Erfahrungen ändern an den Defiziten nichts. Wenn unsere Gesellschaft so strukturiert bleibt, daß sie mit Sicherheit zum Untergang der Menschheit führt, weil die Art und Weise der Kapitalverwertung die Zerstörung der eigenen Lebensgrundlagen bedeutet, stehe ich vor der Frage: Wie kann eine neue Gesellschaftsstruktur aussehen? Ich kann mir die beiden, die ich jetzt kenne, ansehen, aber kann dabei nicht stehenbleiben, sondern muß versuchen, eine neue Gesellschaftsstruktur zu finden, die zu einem Mehr an Emanzipation führt über ein Mehr an Dezentralisierung, ökologischer Umgestaltung, über andere Wirtschaftsstrukturen etc.
Ist die Egalität oder Gleichheit wirklich eine durchweg positive Erinnerung, geht eine diktierte Egalität nicht immer auf Kosten der Freiheit und Humanität?
Die Menschen sind nicht gleich und sollen es auch nicht werden. Es geht darum, gesellschaftlich bedingte Benachteiligungen nicht noch zu zementieren, sondern allen wenigstens die Chance zu lassen, sie auszugleichen.
Die große Ungleichheit besteht doch mittlerweile zwischen den heute und den zukünftig Lebenden sowie zwischen Nord und Süd.
Alles ist relativ. Wer erkannt hat, daß wir ökologische Mindeststandards weltweit benötigen, um die Umwelt zu retten, darf sich um eine zweite Erkenntnis nicht drücken, nämlich daß das nur zu erreichen ist, wenn auch soziale Mindeststandards global durchgesetzt werden. Wir brauchen also einen Ausgleich zwischen Nord und Süd. Und für den müssen wir hier bei den Reichen anfangen, nicht bei der Sozialhilfeempfängerin.
Die Entdeckung der ökologischen Frage ist ein historisches Verdienst des undogmatischen Teils der westdeutschen Linken. Die PDS hat versucht, westdeutsche Linke zu integrieren. Ist das gelungen?
Wir waren ein bißchen naiv und wußten nicht, wie sehr wir als DDR-Partei, dazu historisch belastet, angesehen werden. Wir können aber eine größere Akzeptanz im Westen nur über nicht besetzte linke Politikansätze gewinnen. Da ist uns in letzter Zeit etwas gelungen: Ersatzlose Streichung des Paragraphen 218, unsere Position gegen Maastricht, gegen die Abschaffung des Asylrechts, gegen Sozialabbau und Deregulierung, die Ablehnung des internationalen Einsatzes der Bundeswehr zum Beispiel. Wenn wir in den nächsten Bundestag wieder einziehen, wird es einen gewissen Durchbruch bei den westdeutschen Linken geben, weil sie dann davon ausgehen, daß die PDS doch eine bleibende Kraft ist. Wenn wir nicht reinkommen, sind wir für die westdeutschen Linken einigermaßen erledigt. Sie beobachten uns mit Distanz und Interesse.
Ich sehe die westdeutsche Linke grob so: Viele der 68er leben von Jugendträumen und gegenwärtiger Angepaßtheit, die unterschiedlich gerechtfertigt wird. Da ist es schwer, Zugang zu finden. Dann gibt es Splittergruppen, die ich höchst anstrengend und langweilig finde. Dabei bräuchte es doch angesichts des existentiellen Nord- Süd-Konflikts neue Antworten, denn den Herrschenden fallen vor allem anderen zwei Dinge ein: Erstens Abschotten, zweitens den Süden notfalls militärisch beherrschen.
Sind Sie für offene Grenzen?
Ich denke, daß wir das fordern müssen. Solange wir die „Dritte Welt“ – und da zähle ich Osteuropa dazu – in der bisherigen Form weiter ausbeuten, haben wir moralisch kein Recht, uns vor den Problemen zu verschließen, die wir dort verursachen. Darüber hinaus kenne ich die Mentalität, sich Probleme vom Halse zu halten, indem man sie nicht reinläßt, aus der DDR zur Genüge.
Aber diese Mentalität führt nur zur eigenen Unfähigkeit, Probleme zu lösen. Zurück zur PDS. War es aus heutiger Sicht richtig, keine neue Organisation zu gründen, die nicht den ganzen Ballast mitträgt? Warum müssen 20jährige, die sich als Linke verstehen, als Klagemauer für die Versäumnisse der SED und PDS herhalten?
Wenn wir uns im Januar 1990 aufgelöst hätten und mit einem Etikettenschwindel eine neue linke Partei gegründet hätten, in die überwiegend Ex-SED-Mitglieder eingezogen wären, hätten Sie mir mit Recht vorgeworfen, daß mit einem Taschenspielertrick Geschichte hätte entsorgt werden sollen.
Gab es denn wirklich eine intensivere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, und spielte nicht auch der Wunsch, große Teile des Parteivermögens der SED zu retten, eine wichtige Rolle?
Die Aufarbeitung der Geschichte in der PDS war zum Teil nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe, aber sie war die intensivste und leidenschaftlichste, die in Deutschland geleistet wurde. Was die Finanzen anbelangt, mache ich mir große Vorwürfe. Ich habe der Sache anfangs nicht die Bedeutung beigemessen, die sie hatte. Ich kann als Entschuldigung nur in Anspruch nehmen, daß damals so viel auf uns eingestürmt ist, daß wir nicht alles gemeistert haben. Aber wir hatten ernsthaft und umfangreich mit der Abgabe und Auflösung unseres Eigentums begonnen, als dies ab 1.Juni 1990 durch die treuhänderische Verwaltung des Parteivermögens gestoppt wurde, die noch jahrelang so weitergehen kann. Daran hängt eine Kommission mit 16 Mitgliedern, die jeweils im Jahr 44.000 Mark damit verdienen, daß sie sich einmal im Monat treffen.
Materiell sind die Perspektiven der PDS düster, mit welchen Ideen will sie in den Wahlkämpfen des nächsten Jahres antreten? Wie wollen Sie das Bundestagswahlergebnis von 11,1 Prozent im Osten halten?
Wir wollen es deutlich übertreffen. Erstens wird sich dabei entscheiden, ob es in Deutschland nach einer epochalen politischen Wende möglich ist, nicht zu leugnen, wo man herkommt, damit kritisch umzugehen, aber es auch anzunehmen. Oder es wird uns demonstriert: Opportunismus ist gefragt, nichts anderes. Die CDU der DDR war 40 Jahre dem Sozialismus der DDR fest verschrieben, und die entscheidet sich über Nacht, zu erklären, daß sie schon immer die CDU Helmut Kohls war. Und das wird akzeptiert.
Zweitens ist die PDS die einzige originäre ostdeutsche Interessenvertretung.
Drittens gibt es die hart erarbeiteten gesamtdeutschen linken Positionen; wir sprachen über den Nord-Süd-Konflikt, die Militarisierung der Außenpolitik, den Sozialabbau, die Deregulierung. Hier gewinnen wir unser eigenständiges Profil. Es gibt Übereinstimmungen mit den Grünen, mit der SPD, aber auch Unterschiede, die in dieser Gesellschaft und auch im Bundestag artikuliert werden müssen. Daß sie nicht mehrheitsfähig sind, weiß ich alleine.
Viertens geht es mir im Wahlkampf um die Rolle der Opposition. Die PDS hat den Vor- und Nachteil, daß jede und jeder, die sie wählt, genau weiß, er wählt Opposition. Alle anderen gegenwärtig im Bundestag vertretenen Parteien werden in der Hoffnung gewählt, daß sie Regierung werden. Die Menschen wählen lieber Regierung. Aber ich finde es wichtig, daß es eine linke, inzwischen sehr demokratisch strukturierte sozialistische Partei gibt, die sagt: Mit uns regiert sowieso keiner, wir wollen auch mit niemandem regieren. Nein, wir wollen Opposition gegen die gegenwärtige Entwicklung der Bundesrepublik machen. Wer uns wählt, wählt bewußt Opposition.
Zielt das auf die Politikverdrossenen?
Nein. Ich sage auf jeder Veranstaltung, daß ich verstehe, wie es zu dieser Verdrossenheit kommt, ich bitte nur, darüber nachzudenken, was heute die reale Alternative ist. Das ist nicht eine Dezentralisierung mit einem Höchstmaß an unmittelbarer Demokratie, sondern leider eine demokratisch bemäntelte, stark nach rechts gehende Diktatur. Bevor die kommt, verteidige ich selbst diese parlamentarische Demokratie mit all ihren Mängeln und ihrer Korrumpiertheit. Deshalb spiele ich auf diesem Klavier nicht so voll, wie man es von einem linken Oppositionspolitiker erwarten würde.
Ist im Osten die pauschale Ablehnung der PDS als rote Socken schwächer geworden?
Wenn das stimmt, was wir an Untersuchungen bekommen haben, werden wir nicht so sehr viele Wählerinnen und Wähler bekommen, die bisher anders gewählt haben. Der größere Zustrom könnte aus der Gruppe der Nichtwähler kommen. Die Akzeptanz nimmt zu, die Angriffe ab, aber das wirkt sich nicht notwendig auf das Wahlverhalten aus.
Alles, was Sie gesagt haben, ist wohl für die PDS ehrenwert und sinnvoll, anständig links, aber es fehlt der Kick, den es Ende der sechziger Jahre gab und den alle noch verbliebenen Linken suchen. Welches Thema könnte eine solche Aufbruchstimmung bringen?
Dieses Thema gibt es im Augenblick nicht. Von daher neigen wir alle dazu, erst einmal zu überwintern. Das kann man leugnen und versuchen, sich woanders ranzuhängen, oder man akzeptiert diese Situation. Der Aufbruch, den Sie beschrieben haben, war ein mehr oder weniger intellektueller. Derzeit wächst ein Widerstandspotential ganz anderswo – symbolisiert durch Bischofferode, aber auch das, was in den westdeutschen Kohlerevieren abläuft. Ich finde es schlimm, wie viele Linke und auch Liberale im Angesicht der deutschen Einheit versagt haben. Da kam wirklich kein Kick. Aber ich glaube, wir müssen uns ohnehin von dieser Vorstellung lösen. Alle Kick-Konzepte laufen letztlich auf eine einfach Lösung hinaus, eine Grundidee. Ich bin inzwischen zu der Überzeugung gekommen, daß die gesellschaftlichen Strukturen so kompliziert sind, daß man eine solche Vielzahl von Ideen braucht, weil es die eine große Idee nicht gibt.
Die Kick-Konzeption ist die Hoffnung, daß die positive Konzentration die destruktiven Kräfte überwiegt.
Richtig. Und wir sind in einer Situation, in der von den Leuten, die wir normalerweise ansprechen könnten, viele in ihrem Inneren bereits davon überzeugt sind, daß es fünf nach zwölf ist. Das führt zu einer Resignation und Inaktivität, die zu überwinden ungeheuer schwierig ist.
Sie plädieren aus strategischen Gründen für Optimismus.
Mein schwaches Gegenargument lautet, daß niemand mit Sicherheit sagen kann, ob es wirklich schon fünf nach zwölf ist. Vielleicht ist es ja noch fünf vor zwölf. Und welche riesigen Vorwürfe würden wir uns machen, wenn sich später herausstellt, daß es noch eine Chance gegeben hat, das Ruder herumzureißen – aber wir haben es nicht einmal versucht.
Die Krise als Chance begreifen, das sagen heute vom Vorstand von VW bis zur taz-Chefredaktion eigentlich alle.
Es kommt noch folgendes hinzu: Der Kapitalismus hat in Wirklichkeit nicht gesiegt, sondern ist nur übriggeblieben. Die generelle Krise der Industriegesellschaften hat die realsozialistischen Länder schneller erwischt, aber die Krise ist nicht aufgehoben. Da hoffe ich dann darauf, daß – und Sie können mich einen Idealisten nennen – bevor die Menschheit untergeht, sie sich noch etwas Neues einfallen läßt. Wenn diese Hoffnung berechtig ist, dann sind wir Linken gefragt. Wir sind in der besonderen Pflicht, alternative Strukturen über Gegenkulturen und Gegengewalten zu entwickeln. Aber genau das können wir nicht schaffen, wenn wir von alten Dogmen ausgehen, sondern nur, wenn wir die gesellschaftlichen Strukturen dahingehend genau prüfen – welche funktionieren und weshalb, und welche und weshalb nicht? Wie kann die Transformation einer Gesellschaft zu einer anderen Produktions- und Lebensweise aussehen? Das auch noch weltweit. Da hilft alles nichts, viel einfacher wird's nicht sein. Es ist eine Zeit der Herausforderung für Linke, allerdings – und das meine ich mit dem Begriff des Überwinterns – wir müssen uns erst mal einen gewissen gedanklichen Vorlauf erarbeiten. Wir haben lange von den Ideen anderer aus früheren Jahrhunderten gelebt. Jetzt sind wir selbst gefragt, theoretisch, gedanklich und emotional. Das ist unbestritten eine Überforderung. Aber es ist auch eine extrem interessante Zeit.
Was heißt das für den Wahlkampf der PDS?
Die PDS muß natürlich zeigen, wie sie sich von anderen Parteien unterscheidet. Dennoch denke ich, für uns kommt es im Westen in erster Linie darauf an, daß uns diejenigen wählen, die schon ein bißchen darüber nachdenken. Im Wahlkampf können wir nur ihnen den Ruck geben, es auch tatsächlich zu tun. Es existiert in den alten Bundesländern ein Potential von zwei bis drei Prozent, die darüber nachdenken, ob sie nicht vielleicht PDS wählen könnten. An die heranzukommen, ist unsere Aufgabe. Eines ist für uns noch wichtig: Beim Bündnis 90/Grüne wird es mehr Veränderungen durch das Hinzukommen des Ostens geben als bei anderen Parteien. Vor diesem Hintergrund frage ich mich, welche Richtung diese Partei nehmen wird. Ich sehe Tendenzen zur Etablierung und Verbürgerlichung...
...von denen die PDS doch wunderbar profitieren könnte.
Da bin ich auch eher skeptisch.
Es wird also keinen PDS-Wahlkampf gegen das Bündnis 90/Grüne geben.
Wir werden in erster Linie keinen Wahlkampf gegen andere machen.
Aber Sie machen doch wohl einen Wahlkampf gegen die derzeitige Bundesregierung.
Sicher. An uns wird die Wahl eines neuen Kanzlers mit Sicherheit nicht scheitern. Auch bei der Bundespräsidentenwahl sage ich: Durch meine Stimme wird Herr Heitmann weder direkt noch indirekt gewählt werden.
Wir haben über Politikmüdigkeit gesprochen. Wie sieht es diesbezüglich bei Ihnen aus?
Ich habe unterschiedliche Phasen: Erstens will ich in meinen Anwaltsberuf zurück, daß ich von der Politik nicht abhängig werden. Mir ist es wichtig, jeden Tag sagen zu können: Das ist es dann gewesen. Es macht einen entscheidenden Unterschied, ob ich gebeten werde, zu kandidieren oder ob ich darum bitten muß, kandidieren zu dürfen. Zum anderen gab es eine Zeit, da wurde es mir zuviel. Verantwortung für Geschichte zu übernehmen ist ja gut und schön, aber wenn du den Eindruck hast, daß du die ganze Dresche abkriegst und Mielke und alle anderen sind raus...
Mielke ist drin, wohl bis zu seinem Lebensende.
Ich sprach von einer bestimmten Zeit, in der ich mir sagte, eigentlich hast du das auch nicht verdient. Obwohl ich natürlich auch selber schuld war. Wer sich vordrängelt, kriegt das eben ab. Aber ich war einfach müde. Ich hatte den Eindruck, ich kann mein Anliegen nicht vermitteln. Es gab positive Ausnahmen, beispielsweise Gespräche mit Ihnen, Antje Vollmer oder mit Egon Bahr. Die waren damals sehr wichtig für mich. Der nächste Moment ist dieser Bundestag. Ich finde ihn ziemlich frustrierend.
Das empfinden Köppe, Ullmann, Weiß und andere Ostdeutsche auch.
Ich finde auch Herrn Weiß frustrierend. Ich finde Herrn Kohl frustrierend, ich finde die SPD frustrierend. Ich verstehe, warum aus einer linken Ecke die Frage kommt: Was willst du da eigentlich? Aber wir leben in einer Mediengesellschaft, und wenn ich Politik öffentlichkeitswirksam machen will, ist der Bundestag immer noch eine gute Ausgangsposition dafür.
Dieses Fünf-vor-Zwölf hält mich dabei. Wenn du der Meinung bist, daß sich gesellschaftliche Strukturen unbedingt verändern müssen, dann entsteht aus dir innerlich – nicht so ein allgemeines Verantwortungsgefühl, das ist Quatsch – ein Verantwortungsbewußtsein, nach dem du nicht mehr berechtigt bist, zu sagen: Ich halte mich raus. Ich erlebe Schwankungen, aber am meisten Angst machen mir Dinge, die mit Politik nicht unmittelbar zu tun haben. Ich war beispielsweise im Urlaub in diesem Jahr, und da war ich drei, vier Tage sehr geschäftig, las wie ein Verrückter, und dann stellte ich fest: Gysi, du bist freizeitunfähig geworden. Wenn ich solche Veränderungen an mir beobachte, kriege ich gewöhnlich 'ne Kurve in meinem Leben, mache etwas anders. Erst dachte ich, ich stecke das alles weg. Aber meine Situation war wirklich extrem. Ich habe mich verändert – und nicht zu meinem Vorteil. Ich wurde schließlich stutzig, als ich merkte, daß, wenn Bekannte über ihre Probleme sprachen, mich diese nicht mehr richtig interessiert haben. Und das fand ich nicht sauber. Jetzt bin ich wieder lebenstüchtiger, aufmerksamer. Wie es weitergehen wird? Wir werden sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen