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„Der deutsche Ungeist ist noch immer da“

■ Der Schriftsteller Ralph Giordano ist „empört“ über die Fahrt Dresdner Skinheads nach Israel / „Die rechte Gefahr hat sich bei uns in all ihren Differenzierungen institutionalisiert“

taz: Kennen Sie eine Stadt in Ostdeutschland, die als Hochburg der rechtsradikalen Szene gilt?

Ralph Giordano: Hoyerswerda, Schwedt, Cottbus. Nein, in keiner dieser Städte war ich.

Wenn Sie heute vor einer Berufsschulklasse in Schwedt stünden: Wie würden Sie den Schülern den 9. November näherbringen?

Ich würde chronologisch vorgehen. Der 9. November 1918, dann, 1923, der Marsch auf die Feldherrenhalle, die Pogrome 1938, der Fall der Mauer 1989. Ich würde die Gegensätze der deutschen Geschichte herausarbeiten, aber auch ihre Typik und daß nach 50 Jahren Demokratie noch immer der deutsche Ungeist da ist.

Eine andere Frage lautet doch: Was kann die Großvätergeneration den Schülern vermitteln?

Man muß ihnen klarmachen, daß derjenige, der aus sozialem Elend heraus Brandsätze bastelt, kein Mitleid erwarten darf. Der Bodensatz der jugendlichen Prolos hat doch keine Lobby.

Soll man mit ihnen nach Israel fahren und mit ihnen die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem aufsuchen?

Ich bin empört gewesen, als ich las, was dort passiert ist. Diese Idioten, die sie dorthin geführt haben! Was hat man da den Israelis zugemutet. Ohne jeden Takt. Mir ist die Luft stehengeblieben.

Die Jugendlichen aus Dresden behaupten, vorher hätten sie kein richtiges Bild von den Juden gehabt. Nun loben sie die wirtschaftliche Kraft Israels und daß Hunderttausende jüdische Einwanderer aus Rußland aufgenommen werden. Das ist ein Fortschritt.

Ist es das wirklich? Ist das nicht nur eine momentane Meinungsänderung? Die waren doch nicht vorbereitet auf die Reise. Und außerdem: Der Antisemitismus sitzt in der Tiefe der deutschen Geschichte. Da ist doch eine lange Kontinuität von Haßfähigkeit, die sich selbt genügt und sich selbst regeneriert. Die deutschen Antisemiten kommen doch ohne Juden aus, und sie bedürfen auch keiner sozialen Ursachen.

Der israelische Generalkonsul in Berlin, Mordechai Levy, sagt, im einstigen Land des verordneten Antifaschismus bedeuten jüdische Gedenkstätten nichts mehr. Neue Konzepte müßten gesucht werden. Wie könnten die aussehen?

Da fängt das Problem an. Ich bin kürzlich zum ersten Mal im Lager Auschwitz II, dem Vernichtungslager Birkenau, gewesen. Wenn man heute an der Rampe steht, sieht man rechts und links die gesprengten Krematorien. Mich überkam dort das Gefühl einer Unwirklichkeit. Das hob sich auf, als ich vor den Haarbergen stand, als ich die Protesen sah, die kleinen Kinderschuhe.

Aber das Schwere ist, daß die Kinder der Demokratie sich das Unvorstellbare vorstellen sollen. Wir sagen ihnen: Schau, in diese Gaskammer paßten 2.000 Menschen rein, dann kam das Zyklon B und nach vier Minuten ging es in die Krematorien.

Wird nicht zu schnell gesagt, alle Rechtsorientierten sind Neonazis, und schon sehen wir sie bereits in der Wehrmachtsuniform von morgen maschieren?

Ich erkenne die Täter auf den ersten Blick. Die Veführten sind sehr schnell unsicher zu machen. Die wissen nichts, kennen den Geburtstag von Hitler und den Todestag von Heß und sonst nichts. Bei den Verführern ist das anders. Das sind Leute, die sich artikulieren können. Das Verständnis für Verführte hört auf, wo sie von der Theorie der Gewalt in die Praxis der Gewalt übergehen.

Manchmal wissen sich Bürgermeister nicht anders zu helfen, als das Problem rechter Gewlat totzuschweigen, wie etwa in Schwedt. Dort konnte der Oberbürgermeister nicht länger leugnen und ruft heute zu einer Demonstration ganz allgemein gegen Gewalt auf. Wie beurteilen Sie ein solches Verhalten?

Der Mann ist unglaubwürdig. Ich würde ihn gern einmal testen, warum er geschwiegen hat. Wenn er denn den Rechten auch noch öffentliche Gelder oder Räume zur Verfügung stellt, macht er sich mitschuldig. Wir sehen aber, wie sich die rechte Gefahr mit all ihren Differenzierungen in der Gesellschaft institutionalisiert hat. Mir zeigt es, daß sich eine Gewißheit in eine Illusion verwandelt hat. Die zweite Schuld, hatte ich gedacht, sei gerichtet gegen eine Macht, die ihren welthistorischen Höhepunkt hinter sich hat. Aber ist es nicht fürchterlich, daß wir auf die Fragen, die diese Situation stellt, keine befriedigende Antwort wissen?

Was würden Sie auf der Schwedter Demonstration sagen, wenn Sie heute eine Rede hielten?

Ich weiß es nicht. Ich würde die Menschen fragen, warum sie es in ihrer Region soweit haben kommen lassen. Alles, was man nicht gegen die rechtsextremistische Gefahr unternimmt, stärkt sie. Auch Schweigen in bester Absicht ist Mitschuld.

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