: Die Zuschauer erheben sich
■ "Istanbuler Erklärung" fordert die Beteiligung der Zuschauer an der Entwicklung des Fernsehens
Medienforen sind ja inzwischen so etwas wie eine Landplage – ein umherziehender Talk-Show-Zirkus der immer gleichen Köpfe. Da ist es doch mal ganz interessant, seinen Horizont um europäische Dimensionen zu erweitern.
Nun schon schon zum fünften Mal veranstaltete das Düsseldorfer Europäische Medieninstitut sein „Europäisches Film- und Fernsehforum“, diesmal in Istanbul. Thema der Diskussionsrunde: „Die Zukunft des Fernsehens: Vollprogramme oder Spartenkanäle?“ Die etwa 250 angereisten Teilnehmer aus ganz Europa arbeiteten drei Tage lang in verschiedenen Workshops. Man diskutierte über die zukünftigen Anforderungen an die Lizenzierungsbehörden für Rundfunkveranstalter in den Zeiten des Fernsehens ohne Grenzen oder erörterte die Lage der Filmindustrie in Europa – gerade besonders aktuell wegen der Kulturklausel in den Gatt-Verhandlungen. Ein ganz konkretes Ergebnis brachte eine Arbeitsgruppe zum Thema „Verbraucher- und Zuschauerinteressen“. Die Arbeitsgruppe – in der Hauptsache Vertreter von Verbrauchergruppen und Zuschauerverbänden – verabschiedete eine sogenannte „Istanbuler Erklärung zur Verantwortung in einer medialen Gesellschaft“.
In der Tat ist spätestens nach der Debatte um Gewaltdarstellung in Fernsehprogrammen die fast eingeschlafene öffentliche Diskussion über die elektronischen Medien wieder in Gang gekommen. Die Zuschauer fangen an, sich zu organisieren: In Spanien und Frankreich gibt es Verbände, die bis zu 800.000 Mitglieder repräsentieren. In England versucht der Informationsdienst „Voice of the Listener and Viewer“ zusammen mit anderen Verbraucher- und Non- Profit-Organisationen die Interessen der Fernsehzuschauer zu bündeln. In Holland sind die Zuschauer durch Mitgliedschaft bei Radioorganisationen letztlich selbst Programm-Veranstalter, und in Skandinavien regen sich neben den Verbraucherverbänden die Kirchen.
Auch in Deutschland ist es zur Zeit die evangelische Kirche in Person ihres ehemaligen Fernsehbeauftragten Wolfgang Hessler, die etwas in Sachen Zuschauerverantwortung in Gang bringen will. Die Verbraucherorganisationen könnten ebenfalls ein Kristallisationspunkt sein, wären sie finanziell nicht so ausgezehrt. Auch müssen sie wohl noch erkennen, „daß Medienpolitik auch Verbraucherpolitik ist“, so Theo Wolsing von der Verbraucherzentrale Düsseldorf.
Die „Istanbuler Erklärung“ fordert weiterhin von den europäischen Regierungen den „Erhalt und die Fortentwicklung des öffentlichen Rundfunks [...] in einer Zeit zunehmenden Wettbewerbs“. Hehre Worte, gerichtet an die nationalen Regierungen und an die verantwortlichen zwischenstaatlichen Organisationen auf europäischer Ebene. Ob sie sich durchsetzen lassen, mag vorerst dahingestellt bleiben.
Dort oben kämpft man vielmehr um das Überleben der europäischen Fernsehindustrie. Die drohende Kanalvermehrung aufgrund der digitalen Signalübertragung weckt Ängste vor US-Konkurrenz. Bernard Cauttin vom französischen Pay-TV „Canal +“: „Wir werden bei der Zunahme der Programme keine Invasion amerikanischer Serien oder Produktionsunternehmen auf dem europäischen Markt bekommen, sondern gleich komplette amerikanische Spartenkanäle.“
Ob die Festschreibung einheitlicher technologischer Normen für das digitale Fernsehen in Europa, wie sie derzeit in Normungsgremien diskutiert werden, als Bollwerk gegen eine Invasion amerikanischer Spartenprogramme auf den europäischen Markt taugen, wird sich erst noch zeigen. Wiederholt hat die EG mit der Verordnung von Standards für die Fernsehausstrahlung (Satellitendienste, MAC-Richtlinie) fürchterlichen Schiffbruch erlitten.
Überhaupt muß die Frage, ob denn 500 Fernsehprogramme und mehr überhaupt zu finanzieren sind, diskutiert werden. Die französische Kabelgesellschaft „Lyonnaise Communications“ will ab 1996 rund 200 Programme anbieten. Bis zum Jahre 2000 sollen sich die Umsätze im französischen Pay- TV-Markt auf 20 Milliarden Francs verdreifachen. Die durchschnittliche französische Pay-TV- Familie dürfte dann monatlich mit umgerechnet 75 DM Abo-Abgaben rechnen. Ob den Zuschauern die angebotene Programmvielfalt wirklich so viel wert ist? Jürgen Bischoff
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