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„Der Postraub schweißt uns zusammen“

Seit der Schließung des einzigen Postamts geht ein Hamburger Vorort auf die Barrikaden: Mit eigenem Postzelt und Proteststempel gegen das Postmonopol  ■ Aus Hamburg-Klein Borstel Marco Carini

„Wir befinden uns im Jahre 1993 nach Christus. Ganz Germanien wird vom Postmonopol beherrscht... Ganz Germanien? Nein! Ein von unbeugsamen GermanInnen bevölkertes Dorf hört nicht auf, Widerstand zu leisten. Ort des Geschehens: nicht ,Klein Bonum‘, sondern ,Klein Borstel‘. Seit Wochen wird in dem eher verschlafen wirkenden Vorort im Hamburger Norden gegen die drohende Schließung des Postamts in der Stübeheide gekämpft.“

So sehen sie sich selbst, die Klein Borstler, so steht es auf der Titelseite einer Broschüre zu lesen, die auf einem kleinen Seitentisch ihrer „Postagentur“ ausliegt. Die Agentur ist nur ein Zelt, das vor der Eingangstür des Postamtes 632 aufgebaut wurde. Diese Tür ist seit dem 9. Oktober verbarrikadiert, das Amt geschlossen, wie weitere 41 der 152 Postfilialen, die noch vor wenigen Monaten die Post-Grundversorgung Hamburgs sicherstellten.

Mit steifgefrorenen Händen wiegt der Tanzpädagoge Tom Singer-Carpenter den Brief einer älteren Dame, die ihrem Enkel ein paar Scheinchen ins Kuvert gesteckt hat. Wie der 34jährige stellen sich viele der Einwohner des 3.500-Seelen-Vorortes jede Woche mehrere Stunden hinter die „Theke“ der Agentur im Zelt, um Briefmarken zu verkaufen, Einschreiben und Pakete entgegenzunehmen und Briefe mit einem selbstgemachten PrOteST-Stempel zu schmücken.

Täglich zwischen zehn und zwölf Uhr und noch einmal nachmittags zwischen drei und fünf ist die Postagentur besetzt, und das soll so bleiben, „bis die da oben in Bonn unser Postamt wieder öffnen“. Ein regelmäßiger Fahrdienst bringt die Pakete der Klein Borsteler zum nächsten Postamt in Fuhlsbüttel. Ständig ist der Eingang des weißen Zeltes von Anwohnern umringt, die die neuesten Informationen austauschen, sich in ihrer Meinung bestärken, „daß wir uns diesen Willkürakt nicht bieten lassen“. „Der Postraub schweißt diesen Ort richtig zusammen“, weiß der 41jährige Jochen Nevermann, „jetzt schnacken hier Leute stundenlang miteinander, die sich bisher noch nicht einmal vom Namen kannten.“ Niemand weiß genau, warum es gerade hier geschah. Als die Post ihre großflächigen Schließungspläne Anfang September veröffentlichte, protestierte in der Hansestadt kaum jemand. Ernsthaften Widerstand gegen die Schließungswelle, den gab es, den gibt es nur in dem gutbürgerlichen Klein Borstel.

Als am 9. Oktober das Amt endgültig geschlossen werden sollte, strömten die bis dahin so braven Bürger einfach in ihr Amt und gingen nicht wieder raus. „Das war die erste Besetzung meines Lebens“, schwärmt die 80jährige Gerda M. noch heute. Die herbeigerufene Polizei weigerte sich zu räumen, die Menge löste sich erst auf, als der eilends herbeigerufene Vizepräsident des Hamburger Postdienstes, Günter Gerlach, versprach, mit dem Hamburger Wirtschaftssenator, hanseatischen Bundestagsabgeordneten und Vertretern der PrOtesST-Initiative über den Weiterbestand des Postamtes zu verhandeln.

Mit Engelszungen versuchte Wirtschaftssenator Hans-Jürgen Krupp, die Postfunktionäre davon zu überzeugen, daß sie in Klein Borstel und einigen anderen Stadtteilen „handwerkliche Fehler“ begangen hätten, ihren eigenen Schließungsvorgaben nicht gefolgt seien. Denn niemand, so hatte die Bundespost verkündet, sollte nach den Filialschließungen mehr als zwei Kilometer zum nächsten Postamt laufen müssen. Zwar gibt es tatsächlich in knapp zwei Kilometer Entfernung von der geschlossenen Filiale noch ein geöffnetes Amt, doch müssen die KundInnen auf dem Weg dorthin das Alstertal und den unbeleuchteten Alsterwanderweg überqueren. Der im Winter ungestreute Weg ist besonders für Rollstuhlfahrer und Rentner kein Zuckerschlecken. Auch in anderen Hamburger Stadtteilen müssen die Hanseaten ähnlich abenteuerliche Wege beschreiten, um in den Genuß der 2.000-Meter-Grenze zu kommen. So führt für viele Einwohner von Hamburg-Schnelsen der Fußweg zur nächsten Post geradewegs über die Autobahn.

Nach den Verhandlungen in der verlassenen Schalterhalle schienen die norddeutschen Postdienstfunktionäre zum Einlenken schon bereit, da pfiff sie die Bonner Postzentrale zurück. Die hohen Herren auf ihren gelben Poströssern fürchten nichts mehr, als durch Nachgiebigkeit einen Präzedenzfall zu schaffen, der den Widerstand auch an anderen Orten der Republik auf den Plan ruft. „Augen zu und durch“ heißt die Devise.

Die Klein Borstler aber werden sich so schnell nicht damit abfinden, daß ihr Postamt geschlossen bleibt. „Mindestens bis Weihnachten ist der regelmäßige Betrieb unserer Agentur gesichert“, weiß Tom Singer-Carpenter. Weitere Aktionen sind in Vorbereitung. Die Kraft für ihren ausdauernden Widerstand nehmen die Klein Borsteler aus dem ungeheuren Medienecho, das ihnen seit Wochen zuteil wird. Ständig besuchen Fernsehteams die Post-Protestler, die Mappe mit den gesammelten Zeitungsartikeln über den Konflikt ist bereits dick wie ein Telefonbuch. Vom lokalen Anzeigenblättchen bis zum Spiegel, kaum eine Gazette hat noch nicht das Hohelied von der Klein Borsteler Bürgerbewegung gesungen.

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