: Waggonbau in Berlin kippt aus den Gleisen
■ Auch bei der ABB-Henschel-Waggonbau droht massiver Arbeitsplatzabbau / Werk in Reinickendorf wird aufgegeben
Die Hiobsbotschaften für die Beschäftigten der Berliner Schienenfahrzeugindustrie reißen nicht ab. Nach der Ankündigung des AEG-Konzerns, ihr Werk für Bahnsysteme an der Nonnendammallee in Spandau bis Ende 1994 zu schließen, droht nun der ABB- Henschel-Waggonbau-Union in Reinickendorf ein drastischer Personalabbau.
Wie die ABB-Henschel-Zentrale in Mannheim gestern gegenüber der taz bestätigte, werden bis Ende nächsten Jahres rund die Hälfte der 822 Mitarbeiter bei der Waggonbau-Union entlassen. Zugleich soll der Standort im Nordwesten Berlins geschlossen und ein neues Werk im Stadtgebiet gebaut werden. Im Gespräch sei dabei unter anderem das derzeitige Gelände der ABB-Kraftwerke in Pankow-Wilhelmsruh, erklärte Konzern-Sprecher Udo Lahm gegenüber der taz. Der ursprünglich vor einem halben Jahr noch vorgesehene Abbau auf 600 Mitarbeiter kann nach Angaben des schweizerisch-schwedischen Unternehmens wegen der verschlechterten Auftragslage und Überkapazitäten am Markt nicht mehr eingehalten werden. Derzeit werden in der Miraustraße in Reinickendorf 80 S-Bahn-Wagen für die Hauptstadt gefertigt. Lahm betonte, daß an einen Weggang aus dem Stadtgebiet „auf gar keinen Fall“ gedacht sei: „Wir halten am Standort Berlin fest.“
Allerdings wird im neuen Werk, in das eine zweistellige Millionensumme investiert wird und Mitte 1995 in Betrieb gehen soll, nicht mehr im ursprünglichen Umfang produziert. „Wir müssen aus Kostengründen die Fertigungstiefe verringern“, so Lahm. Aller Voraussicht nach betreffe dies hauptsächlich die Produktion von Rohbauteilen. Es sei „mehr als denkbar“, daß Fertigteile wie etwa Türen künftig von ABB-Vertragspartnern aus Polen und Tschechien bezogen würden.
Der ABB-Sprecher versicherte, daß die verbleibenden Beschäftigten aus Reinickendorf am neuen Standort arbeiten sollen. Ob es jedoch bei den derzeit von der Unternehmens-Spitze anvisierten 400 Arbeitern und Angestellten bleibt, ist unsicher. Lahm: „Das wird sich erst Mitte 1995 zeigen.“
AEG erhielt Millionen
Unterdessen erinnerte gestern die IG Metall an die Millionensummen aus öffentlicher Hand, die der AEG vor rund zehn Jahren für das Spandauer Werk zuflossen. „Der Senat hat die moralische Verpflichtung, auf diesen Umstand bei Verhandlungen hinzuweisen“, so der Sprecher der IG-Metall-Bezirksleitung, Michael Böhm, gestern. Wie am Dienstag bekannt wurde, will das Tochterunternehmen der Daimler-Benz AG 640 der 1.400 Beschäftigten beim Berliner Werk für Schienenfahrzeuge entlassen.
Das Werk an der Nonnendammallee war 1985 zusammen mit einer nagelneuen Stromrichterfabrik in Marienfelde mit großer Politprominenz eröffnet worden. Zuvor war in der Weddinger Brunnenstraße die AEG-Elektromotorenbau aufgegeben worden. Die beiden Neubauten der AEG hatte der damalige CDU-Senat nach langwierigen Verhandlungen mit einer kräftigen Finanzspritze ermöglicht. Insgesamt erhielt die AEG zinsbegünstigte Kredite in Höhe von 30 Millionen Mark, von denen das Unternehmen laut Vertrag nur 8,5 Millionen zurückzahlen mußte. Außerdem wurde eine 15prozentige Investitionszulage für die Gesamtinvestition von 250 Millionen Mark gewährt – ein stolzer Betrag von 27,5 Millionen Mark.
Zuvor hatte die AEG, die Anfang der 80er Jahre in ihre schwerste Krise überhaupt geraten war, mit dem völligen Rückzug aus West-Berlin gedroht. Severin Weiland
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