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Asien träumt Europa

Notizen aus Ulan Bator  ■ Von Stephan Wackwitz

1993, im August

Es ist umständlich und nervenaufreibend, nach Ulan Bator zu reisen. Und man könnte sich mit einigem Recht auch fragen, warum man da eigentlich hin will. Aber als ich an einem frühen Abend im letzten Spätsommer schließlich auf dem großen Zentralplatz der mongolischen Hauptstadt stand, war mir zumute, als könne man Paris, London und Budapest nur verstehen, wenn man einmal in Ulan Bator war. Die klare Luft über dem abenteuerlich dimensionierten Areal war frühherbstlich kühl und roch nach frisch gemähten Wiesen. Die Sonne stand tief und ließ die Prachtbauten um den Platz so melancholisch und vielsagend leuchten wie auf einem Gemälde von de Chirico. Wolken flogen über dem quadratkilometergroßen Betonfeld. Verschneite Berge sahen herein.

Am nördlichen Rand des nach dem Nationalhelden Sukhbator benannten Platzes, eine ganze Seitenlänge einnehmend, steht ein braungraues Parlaments- und Parteigebäude, das durch seine Farbe und durch seinen knallgeraden Säulenschmuck mich an die Gesamtausgabe der Werke Lenins erinnerte, die zusammen mit den blauen MEW-Bänden in den siebziger Jahren mein Arbeitszimmer schmückte. Rechts und links der sozialistischen Bürokratenruhmeshalle, den Platz entlang, der sanft gegen eine Flußlandschaft im Süden abfällt, ziehen sich neubarocke und klassizistische Häuserzeilen. Gras und kleine Birken wachsen aus zerbröckelnden Giebelfeldern und durch Toreinfahrten betritt man Innenhöfe, in denen nichts zu sehen ist außer einem zweirädrigen Handkarren, ein paar Kartons oder einer Teppichklopfstange. Menschen zeigen sich nicht. Dies könnte irgendwo in Osteuropa sein, Wirtschaftsgebäude eines Gutshofs in der Pußta vielleicht („Wolhynien“, dachte ich, merkwürdig bewegt, obwohl ich keine Ahnung habe, wo das liegt und wie es da aussieht).

Besonders rührend sind zwei Theater-, Kino- oder Versammlungsbauten, die sich am Südende des Sukhbator-Platzes, einen Viertelkilometer voneinander entfernt, gegenüberstehen. Das größere der beiden Gebäude, an der Ecke, wo es zum Hotel „Ulanbatar“ abgeht, hat die Größe eines mittelständischen Mehrspartentheaters. Tragödienmasken, bekränzte Leiern und andere musische Gerätschaften treten aus dem dick cremefarben überstrichenen Verputz hervor und im Giebelfeld über dem Säulenportal sind Frauen in mongolischer Nationaltracht zu sehen, die Handtrommeln schwingen und sich Masken vors Gesicht halten. Die Portale hat man mit Latten vernagelt. Auf hölzernen Anschlagtafeln hängen noch ein paar Plakatfetzen.

Von der gegenüberliegenden Platzseite sieht ein graziles Säulenportikusgebäude herüber, das man in einer österreichischen Provinzstadt erwarten würde oder in St.Petersburg, aber nicht hier in der Steppe. Gras und Büsche wachsen aus den Ritzen der Betonplatten. Menschen gehen sehr klein und einsam über den Platz. Ein merkwürdig verhungert aussehendes Reiterdenkmal steht in der Mitte, und ein monströser Kulturpalast aus den siebziger Jahren ist auch da. In jede Himmelsrichtung von hier aus, Tausende von Kilometern weit, dachte ich, erstreckt sich jetzt nur noch Grasland.

Die Neigung der stalinistischen Kulturverwalter zum 19. Jahrhundert war die Beschwörung einer Zeit, in der Gesellschaften noch so überschaubar und so wenig komplex waren, daß Politik, Wirtschaft, Kultur und Privatleben noch zwanglos um politische Großerzählungen gruppiert werden konnten: um „Nation“, „Partei“, „Fortschritt“. Weil die Sehnsucht nach so wenig verwirrenden Zeiten in jedem lebendig ist, empfindet man beispielsweise auf der Frankfurter Allee in Ostberlin wider alles bessere Wissen diese merkwürdig nostalgische Wehmut, vor dem Wandgemälde am Treuhandhaus oder eben auf dem Sukhbator-Platz in Ulan Bator, wo ich an diesem Spätsommerabend in den Kulissen einer ungeheuren Vernunftarchitektur stand. („Hier hat Asien Europa geträumt“, schrieb ich ins Notizbuch.)

Denn ohne Zweifel sind diese Bauten und Institutionen: das Parlament, das Theater, die Partei, der große Platz des Vaterlands, das Museum traumhaft weit entfernt vom Leben der Menschen, die hier als verlorene Pulks, vollgestopfte Plastiktaschen tragend, in der Abenddämmerung an den Bushaltestellen stehen. Als ich am folgenden Tag im Staatsmuseum die berühmten mongolischen Saurierskelette, die versteinerten Sauriergelege und andere Präparate der Nationalfauna ordnungsgemäß zur Kenntnis genommen hatte, verschlug es mich in einen grünblau gestrichenen Gang, an dessen Ende eine Tür halb angelehnt stand. Hirschgeweihe und ausgestopfte Wildtierköpfe hingen an den Wänden. Durch große Fenster schien die mongolische Sonne aufs Parkett. Es war kein Aufsichtspersonal zu sehen, ich stieß die Tür auf und befand mich in einem Ziegenstall.

Der europäische Staat und sein Prunk können in der Mongolei nie andere als metaphorische Bedeutung gehabt haben. Sie waren ästhetische Konzepte, so wie für viele Europäer vor noch nicht langer Zeit Maos „Langer Marsch“ oder die chinesische Kulturrevolution: geträumte Ereignisse, von denen niemand wissen wollte, was sie wirklich waren und bedeutet haben, Bilder undeutlich empfundener Strebungen, die als Legitimationsembleme im Zentrum sehr europäischer Diskurse aufgestellt waren.

„Europa“ heißt ja wohl, daß die modernen Institutionen und Formen so viel Zeit hatten, sich aus ihrem vormodernen, jetzt „dunkel“ erscheinenden Grund hervorzuarbeiten, daß Kompromisse zwischen Atavismus und Rationalisierung entstehen konnten. Zwar sieht jeder modernen Einrichtung auch in Europa der Atavismus über die Schulter, der einmal an seiner Stelle stand. Solche atavistischen Spurenelemente geben zum Beispiel den traditionsgesättigten Formen bürgerlicher Demokratie in Großbritannien einen Qualitätsvorsprung, den die immer von Sterilität und Provinzialismus bedrohten Reißbrettdemokratien in Deutschland und Japan bis heute nicht eingeholt haben. Aber man kann sich in Europa – Skinheads hin, Neonazis her – doch einbilden, daß die Bestien des Ungleichzeitigen nicht so schnell wieder ausbrechen werden.

Der romantischen Moderne von Ulan Bator jedoch ist anzusehen, daß sie ihrem Grund vor so kurzer Zeit entsprungen ist, daß es übermenschliche Anstrengung bräuchte, nicht wieder zurückzusinken: Eine Anstrengung, die hier niemand unternimmt. Der Park südlich des Sukhbator-Platzes, dessen Wegenetz auf der Stadtkarte dieselbe Symmetrie und Luzidität aufweist wie der von Versailles, ist ein subarktisches Gestrüpp. Vogelschwärme weiden rote Beeren vom Dickicht ab und lärmen in den Zweigen.

Um einsam gelegene Barockklöster, in Forsthäusern oder auf Besichtigungsführungen durch Parks und Gemächer schottischer Landsitze kann man in Europa die Stimmung spüren, die zwischen den klassizistischen Bauten von Ulan Bator herrscht. Es ist die Melancholie an den Rändern einer architektonischen Vernunft, die sich zu weit in die Wildnis hinausgewagt hat. Die Verweser auf solchen Außenposten verwandeln sich in atavistische Monstren wie in Joseph Conrads Roman „Heart of Darkness“ Coronel Kurtz oder wie in der wirklichen mongolischen Geschichte der entsetzliche Majorgeneral Baron Ramon Fiodorowitsch von Ungern-Sternberg, der zu Beginn der zwanziger Jahre hier über Leben und Tod entschied.

Indem er Hitler in seinen Tagebüchern und in den „Marmorklippen“ als den „Oberförster“ kenntlich machte, hat Ernst Jünger diesen pionier- oder trapperhaften Zug im Bild der Bürokratenbarbaren sehr genau getroffen. Vielleicht hat mit ihm auch die – eigentlich befremdliche – Neigung der gestürzten Warschauer-Vertrags- Landesväter zu tun, gemeinsam festlich auf die Jagd zu gehen oder, wie früher ihr Erzfeind Göring, bei dem es weniger verwundert, sich in waidmännischen Posen und Verkleidungen abbilden zu lassen.

Als ich den Ziegenstall im mongolischen Staatsmuseum entdeckte, wurde es mir dort so unheimlich zumute, als könnten die Dinosaurier in der großen Zentralhalle durch einen Zauber auf einmal zum Leben erwachen.

* * *

Eigentlich hätten mir die vielen unternehmend um sich schauenden männlichen Einzeltouristen im Foyer des Hotels „Ulanbatar“ zu denken geben müssen. Oder die sengenden Blicke, mit denen mich hier so merkwürdig viele Frauen unter dreißig bedachten. Aber ich war schwach genug, mir einzubilden, daß ich eben der Typ der Mongolinnen sei.

Als ich an jenem ersten Samstag dann von einem langen Spaziergang durch die nicht enden wollende Dämmerung von Ulan Bator ins Hotel zurückkam, wurde mir dann klar, daß die importierte europäische Institution „Hotel“ hier dabei war, sich in eine ihrer Vorformen, in eine Art altertümliches, rollenfunktional noch nicht recht ausdifferenziertes Herbergsbordell zurückzuverwandeln. Die breiten, schwach erleuchteten Gänge des Erdgeschosses waren erfüllt von Diskomusik, Zigarettenrauch und erotischer Erwartung. Gruppen sehr sexy angezogener Mongolinnen stöckelten plaudernd, kichernd und teilnahmsvolle Blicke versendend zwischen den beiden Bars des „Ulanbatar“ hin und her, wobei sie dann und wann in den Marmorportalen des mittenein gelegenen Damenklos verschwanden und vor deckenhohen Spiegeln an sich herumzupften, -kämmten, -malten, -puderten und -sprayten.

Die beiden „Bars“ sind große finstere Räume, die mich an die Gaststuben meines Heimatdorfs erinnerten, die in den frühen siebziger Jahren allsamstäglich durch indirekte Beleuchtung, farbige Glühbirnen, ein paar Verstärkerboxen und unter dem Regiment eines stark schwäbelnden Discjockeys in mich aufregend urban anmutende Etablissements verwandelt wurden, die man mit Herzklopfen betrat und, wenn man Glück hatte, mit Brigitte aus der Parallelklasse verließ. „You wanna buy me a drink?“ fragte eine sinnverwirrend attraktive Mongolin, die fast unmittelbar neben mir auftauchte, nachdem ich mich betont nonchalant auf einem der Barhocker niedergelassen hatte. Sie studierte, wie sich herausstellte, in Moskau Sprachen, war in den Semesterferien auf Heimaturlaub, und als ich bemerkte, Moskau sei ja doch sehr schön, versetzte sie hoheitsvoll indigniert: Ulan Bator sei viel schöner.

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Es gebe hier auch Taxis, sagte sie dann unvermittelt. Taxis, hmm. Ja... – und? „You don't understand?“ Sie wurde etwas ungeduldig. Ich hatte natürlich ganz gut verstanden. Was würde mich ein Abend mit ihr kosten? Finanziell sicher weniger als in der Heimat ein Restaurantbesuch zu zweit, dann aber ein paar Wochen Angst vor Aids und die Notwendigkeit, das Abenteuer meiner Frau zu beichten. Was würde es bedeuten, jetzt abzuhauen? Ich würde ein Gleichgewicht bewahren, auf dem meine Mittelklassenexistenz psychisch aufgebaut ist.

Was würde es für die schöne Mongolin bedeuten, mit mir zu schlafen? Nur ein neues Kleid? Oder hing eine ganze Familie an ihrem Nebeneinkommen? War das hier Elendsprostitution? Oder ein Flirt mit dem Westen aus der Position relativen Wohlstands heraus? Der Übergang von Disko zu Kontakthof und zurück im Hotel „Ulanbatar“ hatte etwas eigenartig Spielerisches, und mir ist heute noch nicht klar, ob nicht jene zwischen den Bars streifenden Gruppen sexy angezogener junger Mongolinnen nur Cyndie Laupers Devise „Girls just wanna have fun“ folgten.

Wahrscheinlich, dachte ich, als ich meine Versucherin wenig später, nicht ohne das nagende Gefühl, etwas versäumt zu haben, mit einem japanischen Einzeltouristen die Freitreppe des „Ulanbatar“ zu einem der tatsächlich in großer Zahl auf dem Vorplatz wartenden Taxis hinuntersteigen sah, wahrscheinlich ist das „älteste Gewerbe der Welt“ so etwas wie der atavistische Grund, aus dem der Kapitalismus immer und überall, und so jetzt also auch in Ulan Bator, entspringt, vermutlich ist der Körper nicht nur die erste Ware, sondern auch das erste private Produktionsmittel und die gesellschaftliche Arbeitsteilung „ursprünglich nichts als die Teilung der Arbeit im Geschlechtsakt“ (Karl Marx/ Friedrich Engels: „Die deutsche Ideologie“).

* * *

Am übernächsten Tag, meinem letzten in der Mongolei, habe ich sie noch einmal gesehen. Sie flanierte Arm in Arm mit einer Freundin über den Sukhbator- Platz, lächelte mich nachsichtig an und sah phantastisch aus. Auf einem nahegelegenen Boulevard hatte ich zuvor einen etwa fünfzigjährigen Mann beobachtet, der auf dem leeren Trottoir stand und ein Kinderkleid mit weißem Rüschenkragen zum Verkauf anbot, indem er es wortlos und mit ausgestrecktem Arm vor sich hinhielt.

Den Anblick dieses Mannes habe ich am nächsten Tag, als ich den Versuch unternahm, mit Aeroflot über Irkutsk und Moskau nach St. Petersburg vorzudringen, nicht vergessen können. Sein Bild ist seit meiner mongolischen Reise in meiner Erinnerung immer deutlicher geworden und ist, während ich dies schreibe, schärfer umrissen als alles andere, was ich in Ulan Bator sonst noch erlebt und gesehen habe.

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