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Mann der tausend Asse

Sampras beim ATP-Finale mit Urgewalt / Stich schüttelt „Becker-Trauma“ ab  ■ Aus Frankfurt Klaus-Peter Klingelschmitt

Der 20. November 1993 wird ein historisches Datum werden – und Frankfurt am Main erneut in die Annalen der Geschichte eingehen. Nicht nur, daß der schon zu Lebzeiten zur Legende gewordene Van Morrison an diesem Tag im „Depot“ vor einem begeisterten Publikum eine Hommage an den Blues inszenierte. Stunden zuvor hatte schon vor einem gleichfalls begeisterten Publikum in der „Gut Stubb“ (Festhalle) ein junger Mann aus dem norddeutschen Flachland eine Hommage an das Herrentennis inszeniert und war damit endgültig aus dem wie Blei auf ihm lastenden Schatten einer anderen lebenden Legende herausgetreten: Michael Stich aus Elmshorn spielte in einem dramatischen Match im Halbfinale der ATP-Weltmeisterschaft den „Klopper“ Goran Ivanisevic an die Wand – und keine(r) der knapp 10.000 ZuschauerInnen dachte noch an Boris Becker aus Leimen.

„Ihr fragt Henry Maske doch auch nicht dauernd nach Max Schmeling“, kanzelte ein vor Selbstbewußtsein aus dem Sweater platzender Stich einen vorlauten Journalisten ab, der es wagte, nach dem Spiel noch von Becker zu sprechen. Stich hatte gestern im Finale (nach Redaktionsschluß) sogar die Chance, mit einem Sieg über Pete Sampras die Nummer 2 der maskulinen Tenniswelt zu werden – und für Boris Becker heißt es zu Saisonende 1993 lapidar: It's all over now, Baby (!) Blue, wie es Van Morrison im Depot ausdrückte. Goran Ivanisevic jedenfalls, der im entscheidenden Tie- Break fünf Matchbälle abwehrte, bevor er doch noch mit 10:12 den Kürzeren zog, lag nach dem denkwürdigen Match (7:6, 7:6) vor Stich auf dem Bauch: „Er spielte sehr gut, er ist sehr selbstsicher. Er hat in der kritischsten Phase einen zweiten unglaublich schnellen Aufschlag auf die Linie serviert – ich hatte keine Chance.“

Wieder einmal ist der Kroate über seinen „Deutschen-Komplex“ (Ivanisevic) gestolpert. Auf dem Weg in diverse Finalspiele der angelaufenen Saison wurde der Linkshänder mit dem Skinhead- Outfit ausschließlich von Deutschen gestoppt – entweder von Becker oder von Stich: „Ja, es ist immer ein Deutscher. Und immer gab es ein dramatisches Ende für mich.“

Völlig undramatisch kam dagegen das Ende für Andrej Medwedew. Mit 6:3 und 6:0 fertigte Pete Sampras den chancenlosen Ukrainer ab – da konnte die Oma aus Kiew in der VIP-Box beten bis der Rosenkranz platzte. Der „sanfte Killer“ (John McEnroe) aus Tampa servierte in der Partie gegen Medwedew das tausendste As seiner Karriere: „Ich wollte Medwedew einfach wissen lassen, daß ich den Ball sehr hart spielen kann.“ Sampras sprach von seinem „besten Spiel seit langer Zeit“ und zeigte sich „selbst ein wenig überrascht“ über seine Form. Für den Weltranglisten-Ersten war es schlicht „einer dieser unvergeßlichen Tage“.

Und auch Medwedew wird das Match in bleibender Erinnerung behalten: „Pete Sampras? He is simply the best!“ Und weil das zur Zeit so ist, fühlt sich Sampras verpflichtet, dem Tennis ein „sauberes Image“ zu geben. So „wie die Gentlemen Rod Laver und Ken Rosewall“ möchte er leben und sich benehmen, damit die Kinder auf der Welt sagen können: „Ich will eines Tages so sein, wie Pete Sampras“ (Sampras).

Masters in New York, Halbfinale: Steffi Graf (Brühl) - Anke Huber (Heidelberg) 6:2, 3:6, 6:3; Arantxa Sanchez-Vicario (Spanien) - Mary Pierce (Frankreich) 6:2, 5:7, 6:3

Doppel, Finale: Gigi Fernandez/Natalia Zwerewa (USA/Weißrußland) - Larisa Neiland/ Jana Novotna (Litauen/Tschechische Republik) 6:3, 7:5

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