Fünf Achtel ohnmächtige Wut

Die Werke des vielgeliebten und vielgeschmähten Erich Fried, jetzt in vier Bänden. Wiedergelesen  ■ von Daniel Haufler

50 Pfund war die „Geschichte vom Untergang seiner Familie“ 1938 wert – genug Geld, um ein halbes Jahr fast sorglos zu leben: Erich Fried sollte seine Erlebnisse nur „streng wahrheitsgetreu und in allen Einzelheiten aufschreiben“. Zwar wollte sein Londoner Gönner ein Drehbuch, aber das überforderte den achtzehnjährigen „Schriftsteller“, denn er hatte bis dahin bloß wenige Gedichte verfaßt. Trotzdem erhielt Fried den Auftrag und zwei Pfund Vorschuß, die er in eine klapperige Underwood-Schreibmaschine, Schreib- und Kohlepapier investierte. Schon am ersten Tag tippte er zwölf Seiten – über seine Flucht aus Wien, das die Deutschen im März 1938 besetzt hatten. Über seinen Vater, der von einem Gestapo-Mann totgetreten wurde, über seine Mutter, die noch immer im Gefängnis eingesperrt war, weil sie versucht hatte, für sich und andere jüdische Familien Devisen ins Ausland zu schmuggeln.

Der später so ungewöhnlich produktive Dichter behielt zwar die Schreibmaschine, aber seinen Vorschuß mußte er zurückschicken. Erst fünfzig Jahre später konnte er die Autobiographie seiner außergewöhnlichen Jugend vollenden: Unter dem Titel „Mitunter sogar Lachen“ erschien sie jetzt zusammen mit fast fünfzig anderen Werken in der vierbändigen Fried-Ausgabe des Wagenbach Verlages. – Diese Ausgabe enthält leider nicht die hervorragenden Übersetzungen, die Erich Fried erste literarische Anerkennung brachten: Dylan Thomas' „Unter dem Milchwald“, Werke von T. S. Eliot, Graham Greene und vor allem Shakespeare, von dem er 27 Stücke ins Deutsche übertrug.1 Dabei zügelte er sein eigenes poetisches Temperament, um dem fremden Werk gerecht zu werden. Als Exilant vermochte er in die „Gegenwart zweier Sprachtraditionen hineinzuhören“ (Peter Demetz). Seine kraftvollen und gut sprechbaren Shakespeare- Übertragungen zählen bis heute zu den meistgespielten auf deutschen Bühnen.

Frieds frühe Gedichte wurden dagegen kaum wahrgenommen. Ein paar freundlich-respektvolle Rezensionen, sonst nichts. Wie viele exilierte Schriftsteller war Fried im Adenauer-Deutschland nicht gefragt. Nach den Kriegsschrecken wünschten die Leser nichts sehnlicher als das Idyll. Und da die veritable schöne Natur kriegsbedingt gelitten hatte, zogen sie sich gern in den imaginativen Freiraum der Lyrik zurück, „wo keine Entscheidung mehr zählte, ... wo sich heute auf Geläute reimte“ (Peter Rühmkorf). In diese Stimmung paßten selbst die ersten eher unpolitischen Arbeiten von Fried nicht. 1946 pointierte er den Zeitgeist scharf und präzise in wenigen Zeilen, die auch formal deutlich auf das spätere Werk verweisen:

Fried sah die Sprache als Medium der Analyse und der Verständigung – trotz des Verdiktes von Paul Celan, der in seiner Dichtungs- und Sprachkritik Brechts berühmtes Gedicht „An die Nachgeborenen“ variierte: Was sind das für Zeiten, / wo ein Gespräch / beinah ein Verbrechen ist, / weil es soviel Gesagtes / mit einschließt?2

Solchem Sprachzweifel setzte Erich Fried 1967 sein Gespräch über Bäume entgegen:

Zwischen belanglosen Worthülsen wird das angeblich unsagbare Ungesagte einfach gesagt. Fried, der Aufklärer, glaubt an die Macht der Worte, die er wörtlich nimmt. Floskeln und eingeübte Redewendungen werden durchs Nachsagen dekonstruiert.

So entlarvte Fried in seinem Gedichtband „Und Vietnam und“ 1966 die amerikanischen Meldungen über den noch „inoffiziellen Krieg“ als Propaganda:

„Armselig“ fand Peter Härtling solche Zeilen und bestritt, daß ein Schriftsteller sich über Erlebnisse aus zweiter Hand empören darf. Unter dieser Prämisse könnte allerdings auch kein historischer Roman entstehen – kein Buch über Hölderlin oder Schubert, wie wir sie von Härtling kennen. Außerdem hat Härtling Frieds Werke eifrig mißverstanden. Fried ging es weniger darum zu erklären, was wirklich in Vietnam passiert ist (obwohl er darüber sicher eine „einseitige“ Meinung hatte, aber er war schließlich kein öffentlich- rechtlicher TV-Sender): Er wollte schlicht die Sprache einer inhumanen Politik anprangern. Dazu umbrach er die Verlautbarungen der Militärs in Verse, in denen für den Leser die Lüge offen zutage trat.

Gegen diese Art von politisierter Dichtung warf auch ein prominenter sozialdemokratischer Dichter seinen Lorbeerkranz in den Ring – Günter Grass dichtete:

Idealismus, meinte Grass, könne nicht als Entschuldigung für ästhetisch mangelhafte Protestlyrik herhalten. Grass zog seinerseits lieber in den Wahlkampf, um in Schleswig-Holstein den Milchpfennig zu erkämpfen. Dafür pflegte er dann artistische Literatur „herzustellen“, die auch nicht einfach der Vergessenheit überlassen werden darf:

Der Fried–Grass/Härtling-Disput wirkt heute seltsam gegenstandslos. Der vieldiskutierte Vietnam-Band wurde übrigens damals nicht mehr als zehntausendmal verkauft – nicht eben eine revolutionäre Zahl. (Frieds „Liebesgedichte“ erreichten hingegen in den achtziger Jahren eine Auflage von über 200.000 Exemplaren.)

Schon ein Jahr nach dem Vietnam-Buch erregte Fried erneut öffentliches Ärgernis, als in seiner Lyriksammlung „Anfechtungen“ die israelische Politik angriff. Nach dem Sechstagekrieg dichtete Fried:

Aus den Opfern von einst sind die Täter von 1967 geworden. Die Anspielung auf die nationalsozialistische Verfolgung klingt deutlich heraus, wenngleich der Begriff Völker auf den historischen Antisemitismus verweist. Aber Fried

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spitzte seine Kritik noch zu, indem er fortfuhr:

Israelis hatten ägyptische Soldaten barfuß in den brennend heißen Wüstensand getrieben und damit für Fried das biblische Versöhnungsmotiv des Sündenbocks pervertiert. Frieds „antizionistische“ Verse empörten: Israelische Juden beschimpften ihn als „Gotteslästerer“ und „Hitler-Apologeten“; ein befreundeter Schriftsteller bezeichnete das Gedicht als „faschistischen Dreck“.

Die Literaturkritiker in Deutschland ignorierten sowohl „Anfechtungen“ als auch „Und Vietnam und“. Erst im Oktober 1968 versuchte Helmut Mader in der Zeit, Fried zu verteidigen:

„Vielleicht wird eines Tages jemand über Erich Fried zu dem Urteil gelangen, er habe einige der schlechtesten und einige der besten Gedichte seiner Zeit geschrieben; und vielleicht wird er differenzierend hinzufügen: einige der schlechtesten nichtpolitischen und einige der besten politischen.“

Ganz im Gegensatz dazu schützte Marcel Reich-Ranicki schon 1965 (und 1982 erneut) die frühen Werke und natürlich die unpolitischen, philosophischen Gedichte: „Die besten Verse gelingen Fried, wenn er die Leiden der Menschen, der uralten Tradition der Lyrik folgend, ... zeigt.“ Die politischen Gedichte hingegen seien sprachlich zu „simpel und oft nachlässig“, die Weltdeutung „holzschnittartig“, eben typisch für die „westdeutschen Linke(n)“ – eine Deutung, die nicht leicht von der Hand zu weisen ist.

Auffallend ist, daß nur wenige Kritiker Frieds poetische Mittel reflektieren, obwohl sie auffallend variantenreich sind: Lehr- und Warngedichte wechseln mit Rätsel- und Protestpoemen; Epigramme und Sentenzen mit Groteske und Paradoxie, Chiasmus und Permutationen. Frieds Gedichte sind komplex und wirken dennoch einfach – genau dies ist seine besondere Kunst. Spät erst wurde das Werk gewürdigt, als Fried 1987 den bedeutendsten deutschen Literaturpreis, den Büchner-Preis erhielt.

Das künstlerische Gesamtwerk Erich Frieds wurde jetzt von Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach ediert. Drei Bände stellen chronologisch die Lyrik vor, der vierte Band die Prosa-Arbeiten. Alle Texte folgen der Ausgabe letzter Hand, frühere Vor- und Nachworte werden im Anhang ergänzt. Die gesammelten Werke von Erich Fried würdigen einen der bedeutendsten Lyriker seit 1945 und gehören zu den wichtigsten Publikationen in diesem Herbst – und das alles nur für gut 50 Pfund Sterling.3

Spruch

Ich bin der Sieg

mein Vater war der Krieg

der Friede ist mein lieber Sohn

der gleicht meinem Vater schon

Seit der Gärtner die Zweige gestutzt hat

sind meine Äpfel größer

aber die Blätter des Birnbaumes

sind krank. Sie rollen sich ein

In Vietnam sind die Bäume entlaubt

(...)

17.–22. Mai 1966

Aus Da Nang

wurde fünf Tage hindurch

täglich berichtet:

Gelegentlich einzelne Schüsse

Am sechsten Tag wurde berichtet:

In den Kämpfen der letzten fünf Tage

in Da Nang

bisher etwa tausend Opfer

Wie Stahl seine Konjunktur hat, hat

Lyrik ihre Konjunktur.

Aufrüstung öffnet Märkte für

Antikriegsgedichte.

Die Herstellungskosten sind gering.

Man nehme: ein Achtel gerechten Zorn,

zwei Achtel alltäglichen Ärger

und fünf Achtel, damit sie vorschmeckt,

ohnmächtige Wut.

Bald wird das Frühjahr, dann der Sommer

mit all den Krisen Pleite sein, –

glaubt dem Kalender, im September

beginnt der Herbst, das Stimmenzählen;

ich rat Euch, Es-Pe-De zu wählen.

Als wir verfolgt wurden

war ich einer von euch

Wie kann ich das bleiben

Wenn ihr Verfolger werdet?

Eure Sehnsucht war

wie die anderen Völker zu werden

die euch mordeten

nun seid ihr geworden wie sie

Den Geschlagenen habt ihr befohlen

„Zieht eure Schuhe aus“

Wie den Sündenbock habt ihr sie

in die Wüste getrieben

Lebenslauf

Hoch auf strebte mein Geist, aber dieLiebe zog

Schön ihn nieder; das Leid beugt ihngewaltiger;

So durchlauf ich des Lebens

Bogen und kehre, woher ich kam

Hölderlin

Lebenslauf (Variation)

Abwärts beugt' sich mein Geist, aber dieLiebe zog

Schön ihn zur Höhe, das Leid hob ihngewaltiger.

So durchlauf' ich des Lebens

Bogen und kehre nie mehr, woher ich kam.Fried

1 27 Stücke von William Shakespeare in der Übersetzung von Erich Fried. 3 Leinenbände mit Begleitbuch, 1904 Seiten, Verlag Klaus Wagenbach, 198DM

2 „Was sind das für Zeiten, wo / ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / weil es ein Schweigen über so viele Untaten ist.“ (Brecht)

3 Erich Fried: Gesammelte Werke in vier Bänden. Gedichte und Prosa. Hg. v. Volker Kaukoreit und Klaus Wagenbach; Halbleinen, je 600 Seiten, Subskripitionspreis bis 31.1.1994: 148DM (danach: 185DM).