: Rußlands heißbegehrte Aktien
Die Moskauer SIL-Automobilwerke wirtschaften schon fast privat auf vielen Märkten ■ Aus Moskau Stefan Schellenberg (Frühjahr) und Barbara Kerneck (Herbst)
Am Anfang war die Privatisierung. Da bekamen im Herbst 1992 alle RussInnen je einen Privatisierungs-Scheck (Voucher), für den sie Anteile an Unternehmen aller Art erwerben konnten. Jetzt folgte unser brennender Wunsch nach einer Reportage über ein im ersten Jahr privatisiertes Unternehmen. Nach vielen Absagen fand sich schließlich die Direktion der Moskauer SIL-Automobilwerke bereit zum Gespräch. Vor einem Jahr hatten sich 700 Delegierte der 103.000 SIL-Arbeiter mit nur 14 Gegenstimmen für ein bestimmtes Privatisierungsmodell entschieden. Die Nachfrage nach SIL-Aktien war bald sehr hoch. Der Betrieb existierte schließlich auch schon vor der Sowjetmacht. Korrespondentin Barbara Kerneck und ihre Mitarbeiterin Larissa Krasnopolskaja, zufällig SIL-Aktionärin, führten ein Informationsgespräch mit dem Chef der wirtschaftlichen Planungsabteilung von SIL, Erlen Michajlowitsch Weiz, einem Manager internationalen Formates mit humorvollen Hummelaugen. An die Produktionsstätten wollte man uns auch hier nicht lassen. Wie gut, daß sich unser Freund Stefan Schellenberg schon im Mai mit einer Journalistengruppe auf dem SIL-Gelände umgesehen hatte. Das Ergebnis ist ein Gemeinschafts-Bericht aus zwei Jahreszeiten.
Herbst: Wir verlieren uns an einem Gesamtschullehrerzimmertisch. Ringsum surren gewaltige Kühlschränke. Ich verdächtige die Firma SIL, darin Lachshäppchen für Empfänge zu horten, bis mich Erlen Michajlowitsch Weiz aufklärt: „Das sind Musterexemplare.“ SIL hat – eine Pioniertat! – 1951 die ersten Kühlschränke im Lande hergestellt. Der kühle Dauerbrenner ist nicht die einzige Abweichung vom Lastkraftwagen. Je nach Konjunktur produziert SIL alles, vom Mikrowellenherd bis zum Fleischwolf. Seit zehn Jahren wird das Unternehmen umstrukturiert – bis vor kurzem auf der Kriechspur. Presseorgane wie die Prawda führten als Indikatoren für die Wühlarbeit des Kapitalismus den Rückgang der Produktion von 209.000 Kraftwagen auf zuletzt 100.000 jährlich an.
„Vielleicht waren ja so viele davon nicht nötig?“ sinniert Weiz. Mit dem sinkenden Bedarf der Armee im Kopf, führt er nun die Differenzierung des Angebotes ins Feld: Glanzstück sind immer noch die in Handarbeit gefertigten Panzerkarossen für Staatsoberhäupter und solche, die sich dafür halten für 200.000 Dollar pro Stück. Deren Produktion ist fast auf das Doppelte gestiegen. „Die Staaten in der Region vermehren sich in letzter Zeit halt stark“, erklärt Erlen Michajlowitsch.
Dazu bietet SIL jetzt acht verschiedene Laster vom Schlepper bis zum Kipper an, mit Kapazitäten zwischen drei und vierzig Tonnen. Besonders gefragt, so Weiz, sind Kleinlastwagen für Farmer: „Dazu hat uns einfach das Leben gezwungen.“
Frühjahr: Zur Werkshalle müssen wir eine halbe Stunde fahren. Auf Bitten nach Besuch im Werk für die Nobelkarossen der Staatsmänner bekommen wir das rußlandübliche Schulterzucken: „Dort werden gerade wertvolle Autos für arabische Scheichs gefertigt. Die legen Wert darauf, daß niemand vorher ihre Wagen sieht.“ Auch eine Begründung. Es mag aber auch etwas dran sein an den schaurigen Geschichten über die extrem gesundheitsschädliche Lackiererei für die Luxusschlitten. Die Fabrik ist eine richtige Stadt. Schilder und Ampeln regeln den Verkehr mit mäßigem Erfolg, wie überall in Moskau. Backsteinmonster bröckeln. Einige Fenster fehlen. Auf dem Hauptplatz wendet sich ein gußeiserner Lenin mit in Siegerpose vorgestreckter Hand ans Arbeitervolk. Aber das strebt in krummer Reihe zur Mittagspause. Zwei gewichtige Frauen mit speckigen Kopftüchern und Schürzen klappern mit einem Handwagen voller Feldküchentöpfe über den geflickten Asphalt.
Herbst: Subventionierte Mittagessen, hausbackene Brotlaibe für ein Drittel des üblichen Preises und Konserven aller Art für den Privateinkauf in den über 40 hauseigenen Kantinen verstehen sich immer noch von selbst. SIL hat bisher keine Abstriche an seinem Sozialprogramm gemacht. „Da lassen wir schon mal ein Paar Laster gegen einige Zentner Zucker vom Band laufen“, sagt Erlen Michajlowitsch gönnerhaft. Die SIL-Werke unterhalten über 50 Kindergärten in Moskau und diverse Erhohlungsheime drumherum. Dazu ein eigenes Krankenhaus mit 1.120 Plätzen – das viele alternative Heilmethoden anwendet. Auf die Frage, ob er unter den SIL-Mobilen irgendein weltweit konkurrenzfähiges Produkt erblicke, senkt Weiz verschämte die Lider. „Na ja“, sagt er, „mit der Ökologie ist es bei unseren Lastern nicht so weit her – und auch von Kraftstoffsparen kann keine Rede sein. Dafür sind die SILs solide und simpel zu handhaben. Kaum Konkurrenz gibt es für unsere Preise. Wo bekommen Sie sonst einen ausgewachsenen Lastwagen für 35.000 Dollar?“
Frühjahr: Endlich sind wir in der Halle, wo jene sowjettypischen Gefährte mit der rundlichen Karosserie montiert werden, deren Design die letzten Jahrzehnte unverändert überdauerte. Heute ist babyblau dran. Über den Köpfen schweben Wagenschläge und Motorblöcke zur Produktionsstraße. Das Förderband läuft nicht allzu schnell. Mit schwarzer Farbe hat jemand auf eine einsam zwischen die Bänder plazierte Sitzbank eine große Zigarette gemalt. Diese separate Raucherecke ist die einzige sichtbare Sicherheitsvorkehrung. Über die Hälfte der Arbeiter, lauter Männer – scheint kaum 18 Jahre alt zu sein. Die meisten Milchgesichter haben fernasiatische Züge – sogenannte „Limitschiki“, deren Arbeitsverträge „limitiert“, also befristet, sind und nach Gutdünken verlängert werden. Jahre schwerer Arbeit und kläglichen Lebens in einer der anonymen Trabantenstädte außerhalb Moskaus sind sie bereit auf sich zu nehmen, immer in der Hoffnung auf die begehrte polizeiliche Meldung in der Hauptstadt.
Herbst: „Das alte System war eigentlich gar nicht so dumm, nur leider wurde es manchmal bis zum Absurden übertrieben“, überlegt Erlen Michajlowitsch. „Immerhin wurden unsere Ressourcen und unser Bedarf erfaßt.“ Daran hapert es jetzt. Die Werke erhielten 40 Prozent ihres Metalles aus der Ukraine. Jetzt stehen die Bänder bisweilen wegen Rohstoffmangels still. „Wir sind schon kein staatliches Unternehmen mehr“, erklärt Weiz. „Aus 40 Werksabteilungen wurden neun, mit zum Teil neuen Direktoren. Um zu rationalisieren, haben wir lieber Aufgaben an Zulieferer delegiert.“ Und dann konstatiert er: „Es ist eine Verirrung zu glauben, daß die Veränderung der Eigentumsverhältnisse auf die Haltung der Arbeiter einwirkt. Viel wichtiger ist der Lohn: durchschnittlich 74.000 Rubel. An guten Facharbeitern fehlt es uns“. Und wer wurde entlassen? Da ist der Chef der Planungsabteilung ganz ehrlich: „Fast alle Limitschiki“.
Frühjahr: Im obersten Stockwerk einer Produktionshalle für Lkw-Türen demonstrieren die von einem westlichen Konsortium aufgestellten Maschinen, wie SIL den Wettbewerb auf dem Weltmarkt bewältigen könnte. Der alte Mann im abgewetzten Anzug, der am Fahrstuhl die Zugangsberechtigung kontrolliert, scheint der einzige Mensch in der ganzen Halle. Mit leisem Surren winden sich gigantische Metallarme in die Luft, übergeben einander computergesteuert Fahrzeugteile und jagen Nieten ein. Autoscooter-ähnliche Gefährte geistern ohne Führer mit schweren Metallteilen durch die Halle. Weil sie fast lautlos fahren, kündigen sie sich zur Warnung mit einer Melodie an – der neuen russischen Nationalhymne.
Herbst: Fünfzig Prozent der SIL-Aktien sind gleich im vorigen Jahr an die Belegschaft gegangen, die Hälfte davon unentgeltlich, die übrigen zu ermäßigten Preisen. Es gelangten 5 Prozent an die 150 Manager aus der Verwaltung und ein gesunder Anteil an RentnerInnen, aber auch jüngere Ex-Angestellte. Unserer Milchfrau, der SIL-Pensionärin Ljudmila, standen vier Aktien zu. Statt dessen nahm sie einen großen Kühlschrank mit Gefrierfach in Empfang, den ihr die Betriebsleitung als Lohn für einen Anteilverzicht anbot. 35 Prozent von den restlichen 50 Prozent Aktien wurden öffentlich versteigert. Weitere 10 Prozent sollen an ausländische Investoren gehen, die dem Staatskomitee für Eigentum ihre Investitionspläne vorlegen müssen. SIL hat dabei nur eine beratende Stimme. „Wir haben den Eindruck, daß wir hier in unserer Abwesenheit verheiratet werden“, behauptet Weiz.
Dieser Wettbewerb speziell für Ausländer ist nach Auskunft der Zeitung Kommersant eine Gesetzesverletzung, denn „geschlossene“ Auktionen sind bei diesem Privatisierungsmodell verboten. Die Kontrolle über die Aktienmehrheit bleibe auf jeden Fall im Hause, beruhigt sich Weiz: „Heute hat die Belegschaft schon 65 Prozent erworben“. Und wie schlüsselt sich der Begriff Belegschaft hier auf? Gerüchte, daß sich die führenden Manager Tausende von Aktien angeeignet haben, werden von diesen natürlich abgestritten.
Frühjahr: Vor einem Metallförderband präsentiert sich ein menschliches SIL-Fossil mit Rauschebart den Journalisten: „Durch die Privatisierung ändert sich ohnehin nichts. Die Arbeiter bleiben Arbeiter – meine Aktie macht mich nicht zum Direktor.“
Herbst: „Wir können wirklich nicht sagen, wer was besitzt“, sagt Chefplaner Weiz treuherzig. Die Zeitung Kommersant glaubt sich da besser auszukennen: 1,02 Millionen SIL-Aktien, (35 Prozent), seien auf den öffentlichen Auktionen an insgesamt 55.000 Neuaktionäre gegangen. Acht von ihnen, darunter der Handelsfirma „Mikrodin“, sei es gelungen, sich so dicke Pakete zu sichern, daß sie jetzt zusammen 20 Prozent des Grundkapitals, das auf drei Milliarden Rubel geschätzt wird, in Händen halten. Beobachter schließen nicht aus, daß die SIL-Geschäftsleitung rechtzeitig von diesem Unterfangen Wind bekam und selbst insgeheim Käufe getätigt hat. Die Betriebsführung hätte da gute Gründe, zu schweigen.
Dem Einfluß von Aktionärs- Koalitionen haben zudem die neuen SIL-Statuten einen Riegel vorgeschoben. Dem Privatisierungsgesetz zufolge können Aktionäre, die zusammen über zehn Prozent der Anteile verfügen, die Einberufung einer außerordentlichen Aktionärsversammlung verlangen. Den SIL-Statuten nach müssen sie jedoch über 20 Prozent verfügen. Das mächtigste Organ der SIL-Verwaltung, der fünfzehnköpfige „Rat der Gesellschaft“ beschneidet die sowohl für den Generaldirektor als auch für die Aktionärsversammlung vorgesehenen Rechte.
Inzwischen fühlt sich die Kleinstaktionärin Larissa Krasnopolskaja übervorteilt. Hauptgrund: Zwar stellt die Geschäftsleitung 200 Prozent Dividende jährlich in Aussicht – nicht auf den Nominalwert des investierten Vouchers von 10.000 Rubel, sondern den der SIL-Aktie von 1.000 Rubel. Immerhin bekämen die Kleinstaktionäre im Laufe von fünf Jahren auch so den heutigen Preis des Vouchers wieder zurück. Aber wenn die Inflation weiter so voranschreitet, sind 10.000 Rubel dann keine Kopeke mehr wert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen