: Auf der Suche nach dem Bauch von Berlin
■ Die historischen Berliner Markthallen und ihr strenger und preußischer Bautyp
In dem Roman „Der Bauch von Paris“ beschreibt Emile Zola sehr trefflich das Wesen der Markthallen am Ende des 19. Jahrhunderts. Die „lichtdurchfluteten Eisengewölbe, unter denen das Auge zum gierigen Organ“ wird, steigerten für ihn den Sinnestempel zu einem architektonischen Surrogat für den Dombau. Die Händlerpaläste, abgeleitet von den Gewächshäusern und frühen Industriehallen, schufen einen weiten Raum, der das bauliche Prinzip der Basilika mit den Mitteln der modernen Ingenieurbaukunst fortschrieb.
Die Markthallen Berlins folgen nur zum Teil dieser baulichen Typologie. Sie geben sich strenger, preußischer, konservativer. Für ihre Umfassungswände wurde die in Frankreich übliche leichte Eisenkonstruktion vermieden. Die Berliner Bauten erhielten eine Ziegelhülle, die Tragkonstruktion wurde aus Eisen und nicht aus Stahl hergestellt. Die erste Markthalle am Schiffbauer Damm, die 1868 von der „Berliner Immobiliengesellschaft“ errichtet wurde, „um das Markttreiben und die Verunstaltung der Straßen und Plätze zu beheben“, erinnerte durch die gemauerte Fassade und eine aufgesetzte Kuppel, breite Treppen und prächtige Gewölbe an die Traditionen der feudalen Herrschaftsbauten. Die Konkurrenz der Straßenmärkte indessen verhinderte ihre Prosperität. Sie gab nach zwei Jahren auf.
1883 beschloß der Berliner Magistrat nach der Eröffnung der Stadtbahn den Bau einer „Centralmarkthalle“ am Alex. Sie wurde nach den Plänen des Baurats Blankenstein errichtet und sollte Vorbild für alle dreizehn weiteren Hallen in der Stadt werden. Ein langer Mittelbau überragte das Gebäude wie das Hautptschiff einer Kirche. Die charakteristische Atmosphäre aus sakraler Ästhetik und sachlicher Strenge entstand durch die filigrane Skelettkonstruktion aus Eisen und Glas, die sich in großen Bögen über die Stände und Emporen schwang. Die zentrale Halle und die niedrigen Seitenschiffe erhielten ihr Licht durch umlaufende Fensterreihen, die man zu Lüftungszwecken öffnen konnte.
Das Rechteck der 117 Meter langen und 99 Meter breiten Centralmarkthalle umschloß in seinem Innern zusätzlich zwei große Galerien, von denen Verwaltungsräume für die Güter- und Zollabfertigung, das Schauamt und die Büros der Händler abzweigten. Der Bau unter der Stadtbahn zur zentralen Versorgung der Bevölkerung und technischen Abwicklung der Güter bestach durch einen hohen funktionalen Standard. Die Waren konnten von dem Gleiskörper über Fahrstühle und Rampen direkt in die Halle sowie über breite Fahrstraßen auf dem kürzesten Weg an die Stände transportiert werden. In einer Stunde konnte man so bequem 15.000 Kilogramm entladen.
Ebenso wie die Halle am Alex unterlagen die kleineren eingeschossigen Bezirksmarkthallen mit 250 bis 300 Händlern – etwa in der Ackerstraße, der Eisenbahnstraße oder der Badstraße – genauen Bauvorschriften: Die Stände entlang der mittleren Durchfahrten und den Querachsen mußten auf ein leichtes Quergefälle zu den Gängen gebaut sein, damit das Spülwasser abfließen konnte. Gemüse- und Obsthändler konnten an offenen Tresen, Fleischer oder Fischverkäufer nur in vollständig abgeschlossenen Läden verkaufen. Für Textilienverkäufer, heute Hauptnutzer der Markthallen, gab es keine Konzession.
Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts eröffneten mit der Marheinekehalle und der Arminiushalle zwei Markthallen, die frei standen, ein Restaurant im Kopfbau besaßen und ohne Galerien geplant wurden. Sie gehören bis dato zu den schmuckvollsten Bauten, sind doch die sichtbaren Stahlträgerkonstruktionen und gußeisernen Säulen mit ornamentartigen Bindern und Kandelabern verziert, an die die heutigen Nachahmer Berliner Markthallen nicht heranreichen.
Nach der Kriegszerstörung von vier Hallen sowie der Schließung der Centralmarkthalle entstanden schnellfabrizierte Passagen und Atrien, die den Namen Markthalle nicht verdienen. Es sind großflächige Warenlager und Billig-Boutiquen, die sich mit Glasdächern den Anstrich von Nostalgie geben. Die kleinräumliche Struktur des Marktes und die Atmosphäre des Handelns kommt etwa bei der eben eröffneten Markthalle in Mitte am Alexanderplatz nicht mehr auf. Es bleibt ein Loch im Bauch von Berlin, das die Lebensmittelmärkte hinter Gummibäumchen nicht stopfen können. Rolf Lautenschläger
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