: Kältetod im „Niemandsland“
Wie viele Obdachlose seit dem überraschenden Kälteeinbruch schon erfroren sind, läßt sich nicht exakt ermitteln, doch mit Sicherheit werden es nicht die letzten sein. Ob im Osten oder Westen – die Kommunen haben kein schlüssiges Konzept zur Verhinderung der (Ursachen von) Wohnungslosigkeit.
Auf dem kleinen Schild am Hauseingang Kamenzer Straße 17 steht „Beratungsstelle für wohnungslose Menschen“. Schon die bedächtige Wortwahl soll ein Stück Lebenshilfe geben. „Obdachloser“ – dieser Begriff sei diskreditiert und werde mit einem Bild in Verbindung gebracht, das der Realität längst nicht mehr entspreche, erklärt Michael Pohlmann, der als Sozialarbeiter der Inneren Mission wohnungslose Menschen in Dresden betreut. Den Sommer über waren es um die 50 Leute, die diesen Dienst in Anspruch genommen haben. In den vergangen drei Monaten sei die Zahl „geradezu explodiert“ – auf etwa 120; die Dunkelziffer dürfte um einiges darüber liegen.
„Zu uns kommen nur solche Betroffene, die noch die Energie haben, an ihrer Situation etwas zu ändern. Manche Wohnungslose sind dazu gar nicht mehr fähig“, beschreibt der Sozialarbeiter die Situation in der Halbmillionenstadt. Bisher steht in Dresden nur ein einziges städtisches Übernachtungsheim zur Verfügung. Wer sich als „Neuer“ vielleicht erst einmal auf dem Hauptbahnhof die Nacht um die Ohren schlägt, kann dort beim Roten Kreuz ein Bett finden, wird am nächsten Tag aber zum Heim geschickt. Für viele Wohnungslose sind die versteckt liegenden, eingezäunten Baracken der kommunalen „Obdachlosenübernachtungsstätte“ eine hilfreiche Zuflucht. „Aber nicht alle kommen mit der scharfen Reglementierung zurecht.“ Striktes Alkoholverbot sei lediglich einer der Gründe, weshalb Wohnungslose versuchen, die „Läusepension“ zu meiden und, solange wie möglich, „Platte zu machen“. Dort droht nicht nur der Kältetod: Am 12. September 1993 wurde Rainer S. von unbekannten Tätern erschlagen: das erste Opfer von Gewalt gegen Obdachlose in Dresden.
Die Beratungsstelle kann selbst keine Betten anbieten, notwendig wäre „ein Angebot an Übernachtungsstätten, das der breit gefächerten Klientel gerecht wird“ (Pohlmann). Alleinerziehende und Ältere bilden die Mehrzahl derer, die sich nach einem sozialen Kollaps, der oft mit dem Verlust des Arbeitsplatzes beginnt, auf der Straße wiederfinden. Sie kommen aus allen Stadtteilen, in der jüngsten Zeit häufiger aus den Neubaugebieten am Stadtrand.
Die wirksamste Politik gegen Obdachlosigkeit wäre die Erhaltung von kommunalem Wohnraum. Genau das aber geschieht in Dresden nicht. Die Zahl von 30.000 Wohnungssuchenden hat sich seit 1990 nicht geändert. Die Stadtregierung nutzt jede Gelegenheit, ihr „Erfolgsrezept“ Privatisierung durchzuziehen. Nicht einmal die Statistiker im Rathaus sind in der Lage, über den Bestand an kommunalem Wohnraum Auskunft zu geben. „Mit Geld allein ließe sich die Situation ja noch relativ leicht lösen“, gibt Leipzigs Sozialamtsleiter Walter Köhl zu bedenken. Er warnt vor einer Pauschalisierung der Ursachen für Wohnungslosigkeit: „Mietschulden haben im Osten noch nicht so utopische Höhen erreicht. Die Frage ist jedoch: Wann erfahren wir von Notfällen, und wie lassen sich die Betroffenen helfen.“ Deshalb gibt es in Leipzig eine für die neuen Bundesländer bisher einmalige Einrichtung: Seit September hat sie für 50 Erwachsene und 40 Kinder Obdachlosigkeit verhindert. Nach dem „Kölner Modell“ wurde beim Wohnungsamt eine Abteilung Wohnungshilfen eingerichtet. Sie steht mit sieben Büros in allen Stadtbezirken den BürgerInnen offen. Schon wenn die erste Mahnung auf dem Tisch liegt, und erst recht, wenn die Kündigung oder gar eine Räumungsklage ausgesprochen wurde, können sich die Betroffenen dort an Sozialarbeiter wenden. Wenn es gar nicht anders geht, übernimmt die Stadt die Mietschulden oder zahlt ein Darlehen. Wer für den gemeinsamen Weg keine Kraft mehr hat, kann sich wenigstens im städtischen „Tagestreff“ für ein paar Stunden aufwärmen. Detlef Krell, Dresden
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