: Demokratisch Kurdistan
Seit fast zwei Jahren regieren sich Kurden im Norden Iraks selbst. Doch seit die Truppen Saddam Husseins vertrieben wurden, leiden die Menschen unter bitterer Armut, irakischen Anschlägen und Angriffen Irans und der Türkei ■ Von Kameran Fatah
Vor den Toren der staatlichen Zigarettenfabrik in der Millionenstadt Sulaimaniya bilden sich lange Schlangen. Das kurdische Kabinett hat beschlossen, alle Beschäftigten mit 500 Dinar zu honorieren. Alle kommen, auch die, die seit langem nicht mehr in der Fabrik erschienen sind. Seitdem vor über drei Jahren die UNO ein internationales Embargo gegen den Irak verhängt hat, haben die 1.550 Beschäftigten die Produktion eingestellt. Zigarettenfilter, Papier und Ersatzteile für Maschinen, die früher aus dem Ausland kamen, fehlen seitdem in der Fabrik. Das Embargo gilt auch für Kurdistan.
Formal sind die Arbeiter aber weiter beschäftigt und werden auch bezahlt. Das ehemals überdurchschnittliche Gehalt wird mit der galoppierenden Inflation aber zur Farce. „Mit den 250 Dinar (etwa 15 Mark) kann ich meine Familie nicht mal zwei Tage ernähren. Es reicht gerade für einen Sack Mehl“, sagt Hama Faraj, Mechaniker in der Fabrik. Angesichts dieser Situation geht es ihm kaum besser als einem der 80 Prozent Arbeitslosen, die es mittlerweile in Irakisch-Kurdistan gibt.
Schmerzhaft sichtbar wird der Zustand an der steigenden Zahl bettelnder Kinder in den Straßen der Großstädte oder auch an dem Druck, der auf Exilkurden liegt, ihre Familien in der Heimat zu ernähren. Nur ein paar Händler, die über dubiose Quellen den einen oder anderen begehrten Artikel einführen, gehören zu den Gewinnern der zusammenbrechenden Wirtschaft.
Der Wert des irakischen Dinar – der offiziellen Währung – ist von harten Devisen abhängig. Steigt der Dollar, steigen auch die Preise in Kurdistan. Sinkt der Dollar, sinken die Preise nicht etwa, sondern bleiben auf gleichem Niveau. Das heizt die Inflation an und läßt Devisenspekulanten, einer Handvoll Neureichen, ein weites Feld an Profitmöglichkeiten.
Die Geschäftsleitung der Zigarettenfabrik hat den Arbeitern erlaubt, sich zusätzlich eine andere Beschäftigung zu suchen. „Unser Ziel bleibt jedoch, die Maschinen der Fabrik wieder zum Laufen zu bringen“, meint Mahmud Abdulrahman, Leiter der Produktion. Angeblich liegen in Bagdad noch zahlreiche der dringend benötigten Ersatzteile, die früher aus der Bundesrepublik geliefert wurden. Aber die irakische Führung weigert sich, den Kurden irgendwelche Hilfe zukommen zu lassen.
In der rund 150 Kilometer entfernten Hauptstadt Arbil debattieren derweil kurdische Parlamentarier darüber, wie die Probleme der Region in den Griff zu bekommen sind. Das Parlamentsgebäude stammt noch aus der Zeit vor den Aufständen. Früher residierte hier eine regionale Marionettenregierung Bagdads. Anfang 1992 einigten sich die damals in der Kurdistan-Front versammelten Parteien, erste freie Wahlen abzuhalten. Obwohl die „Kurdische Demokratische Partei“ (KDP) Massud el- Barsanis die „Patriotische Union Kurdistans“ (PUK) Dschalal Talabanis knapp übertraf, bekamen beide Parteien je 50 der insgesamt 105 Parlamentssitze zugesprochen. Fünf Sitze stehen der assyrischen Volksgruppe zu. KDP und PUK teilen sich seitdem die Macht. Vertreter beider Parteien beteuern, die große Koalition sei unumgänglich, um die Lage zu stabilisieren. Andere politische Gruppierungen kritisieren jedoch, vom politischen Prozeß ausgeschlossen zu sein. Mitglieder einer im Herbst gegründeten „Arbeiterkommunistischen Partei Kurdistans“ beklagen gar, sie würden aus politischen Gründen verfolgt.
Die Regierung hat häufig Probleme, getroffene Beschlüsse in die Tat umzusetzen. Sie scheitern an der starken Fixierung vieler Kurden auf die jeweilige Parteizugehörigkeit. So werden gemeinsame Beschlüsse, die auf Initiative der jeweils anderen Partei zustande kommen, aus falsch verstandener Loyalität in den lokalen Verwaltungen oft einfach ignoriert.
„Die PUK spricht über Agrarreform, die KDP über Errichtung von Denkmälern für die Gefallenen des 32jährigen Widerstandskampfes. Am Ende passiert dann überhaupt nichts“, stellt der Schriftsteller Shiruan Garib trocken fest, und er steht mit dieser Meinung nicht alleine. „Das Parlament möchte beweisen, daß es demokratisch ist, die PUK möchte zeigen, daß sie sozialdemokratisch ist, die KDP will bestätigen, daß sie liberal ist, und die Regierung muß das alles zum Ausdruck bringen“, faßt er die politische Szene zusammen.
Aber die politischen Organisationen und Gremien sind nicht die wichtigsten Autoritäten in der kurdischen Gesellschaft. „Bis heute sind die Stammesstrukturen fester Bestandteil des Zusammenlebens“, erklärt der PUK-Funktionär Haure Suare. „Ohne die Kooperation vieler Stammesführer wäre Kurdistan von der Baath-Regierung nie so perfekt beherrschbar gewesen.“ Dennoch sieht er das Spannungsfeld zwischen dörflichen Strukturen und forcierter Urbanisierung als Chance für eine neue kurdische Zivilgesellschaft.
Das Parlament ist auf ein Stillhalteabkommen mit den Stammeschefs angewiesen. Um sie nicht zu vergrätzen, wurde eine angekündigte Agrarreform nur ansatzweise durchgeführt. Täglich pilgern Stammesführer zu den Hauptquartieren der beiden großen Parteien und Schaqlawa und Salah ad-Din, um mit den Parteivorsitzenden mehr oder weniger große Probleme zu besprechen. Eine langwierige Angelegenheit, denn von den Parteichefs wird häufig erwartet, daß sie Konflikte mit geradezu salomonischer Weisheit schlichten.
Einlaß verlangen auch Abgesandte entlegener Dörfer, die bis heute keine Hilfsorganisation zu Gesicht bekamen. „Was das Baath-Regime in 25 Jahren zerstört hat, können wir nicht in zwei Jahren wiederherstellen“, lautet die Antwort Talabanis auf ihre Hilfegesuche. Trotz der Bemühungen, die internationale Hilfe für Kurdistan im Ministerium für humanitäre Angelegenheiten zu koordinieren, gibt es landesweit noch völlig unversorgte Regionen. In schneebedeckten Zelten und Hütten versuchen dort Kurden, den zweiten Winter seit der Abnabelung von Bagdad zu überstehen.
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