: Die Stillen sind die „verlorenen“ Kinder
■ Für die Kinder von AlkoholikerInnen gibt es kaum Angebote / eine Tagung
Hat er Bier oder Schnaps getrunken? Das merkt seine Frau immer schon am Klingeln. Bier - harmlos, bei Schnaps aber geht sie in Deckung. Mit einem Alkoholabhängigen zusammenzuleben ist ein großer Kraftaufwand. Allein die Kraft, die es kostet, vor der Außenwelt den Schein einer heilen Familie aufrechtzuerhalten. Für die erwachsenen Angehörigen von Alkoholabhängigen gibt es mittlerweile viele Selbsthilfegruppen, und in vielen Entwöhnungstherapien werden sie in Familentherapie-Seminaren einbezogen. Angebote für Kinder jedoch fehlen weitgehend. Dabei werden 50 Prozent der Kinder von Alkoholabhängigen später selbst abhängig oder suchen sich einen süchtigen Partner.
„Es muß ein Hilfensystem geben, das bis zum Kind gelangt, das also nicht von der Freiwilligkeit der Eltern abhängt“ – so faßte gestern Uwe Fischer vom Sozialressort das Anliegen einer Fachtagung des Arbeitskreises Alkohol Bremen (AKA) zusammen. Gekommen waren nicht nur die in der Suchthilfe Arbeitenden, sondern auch LehrerInnen und KindergärtnerInnen. Oft könne man den Kindern mit einfachen Dingen helfen, berichtet Hans-Joachim Stamer von der Erziehungsberatungsstelle Bremen-West: Ihnen zum Beispiel bestätigen, daß ihre Wahrnehmung stimmt. Wie oft fliegen nachts die Fetzen, brüllen die Eltern – am nächsten Morgen heißt es auf die Nachfrage des Kindes allerdings „Nein, es war nichts“.
Aufmerksam werden könnten LehrerInnen zum Beispiel, wenn ein Kind ausdauernd den Clown spielt oder immer äußerst heldenhaft auftritt. Der Held und der Clown sind zwei von insgesamt vier starren Rollen, die ein Kind in einer Alkoholikerfamilie spielen kann. Das erste Kind hält heldisch die Familie aufrecht. Das zweite Kind nimmt zwanghaft die Rolle des Sündenbocks an – um wenigstens ein bißchen Aufmerksamkeit abzubekommen. Dem dritten bleibt nur die Rolle des stillen Kindes. Und das Nesthäkchen flüchtet sich in die Rolle des Maskottchen, des Clowns. Es kaspert, um so die Spannungen in der Familie zu umgehen.
Bei den Guttemplern treffen sich jeden zweiten Samstag Kinder aus betroffenen und aus nicht betroffenen Familien zu Ausflügen oder auch mal einem Eltern-Kind-Wochenendseminar. Glücklich sind die Betreuenden besonders, wenn eins dieser „stillen“ Kinder endlich mal richtig aggressiv wird und mal seine Wut an jemandem ausläßt. Diese stillen Kinder werden in der Fachsprache auch die „verlorenen“ Kinder genannt – sie werden nämlich in ihren Familien einfach vergessen. Später rutschen sie dann häufig in die Medikamentenabhängigkeit. Die Kinder mit der Sündenbockrolle, die sich jahrelang selbst die Schuld am Elend der Familie zuweisen, werden häufig drogenabhängig. cis
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