Integration statt Ausgrenzung

Warum Jugendgewalt nicht nur mit staatlicher Gegengewalt zu beantworten ist  ■ Von Frank Baumgarten und Klaus Breymann

Der Schock sitzt tief: Brandanschläge auf Asylbewerberheime und der häßliche Deutsche beifallklatschend am Straßenrand, verbrannte Kinder ausländischer Mitbürger und kahlköpfige Brutalos mit haßvollen Rechtfertigungstiraden vor laufender Kamera und die Angst vor weiteren Wellen der Gewalt. Gleichzeitig aber Ratlosigkeit über die Ursachen und Ideenlosigkeit über eine Gegenstrategie, statt dessen Polizisten häufig im Nichteinsatz – die zudem selber vielfach rechtsorientiert sein sollen – und eine Justiz, bagatellisierend und von zögerlicher Behutsamkeit gegenüber Tätern, die nur die Sprache harter Bestrafung verstehen?

Was läge da nicht näher als ein Konzept der Gegengewalt: Hetzt die Glatzen, wo ihr sie findet, schmeißt sie raus aus den Betrieben und Freizeitheimen und sperrt sie ein, bis sie schwarz werden!

Eine solche Art der Betrachtung überlasse man beunruhigt denen, die das Geschäft mit der Angst verstehen und damit Wahlen gewinnen wollen. Die Gegenposition muß diametral anders aussehen, nicht Gegengewalt, sondern ein Konzept gegen Gewalt, das Emotionalität durch präventiv orientierte Rationalität ersetzt.

Wellen von Jugendgewalt sind nicht neu. Aber Sorge bereitet heute die Intensität der Gewalt, ihre Brutalität und Rücksichtslosigkeit und ihr Ausdruck in Nazisymbolen und -formen. Daß es sich dabei selten um Gewalt zur Durchsetzung einer nationalsozialistischen Machtergreifungsfantasie handelt, sondern eher um gezielte Provokationen unter Einsatz der letzten möglichen Tabuverletzung, hat sich unter denen, die es hören wollen, herumgesprochen. Die Gewalttätergruppe ist weniger tatsächliche Kampfeinheit, als vielmehr der Rückzugsraum auf der Suche nach der Nähe und Gemeinschaft Schicksalsgleicher. Sie ist nicht planvolle Organisation, sondern oft das zufällige Beisammensein zur Befriedigung emotionaler Bedürfnisse. Alles andere ist (noch) seltenere Ausnahme. Es sind auch regelmäßig keine (ausschließlichen) Unterschichtsgruppen; diese Jugendlichen – begreifen wir es! – stammen aus unserer Mitte. Wesentliche Übereinstimmung herrscht unter ihnen, daß die Erwachsenenwelt ihnen eine Welt überläßt, in der Gewalt – in jeder Tagesschau zu besichtigen – effizient ist, in der Zukunftsressourcen heute verfrühstückt werden und Zukunftsprobleme nicht mehr lösbar erscheinen. Nach innen verbindet die Jugendlichen – ob sie nun Arbeit haben oder nicht – das Gefühl, unsicherer werdender Chancen für eine gesicherte Existenz. Sie wollen keine radikale Umwälzung dieser Gesellschaft, sondern nur ihren Platz in dieser Gesellschaft.

Es spiegelt sich in den Gewaltreaktionen die Erwachsenenwelt, die wir Erwachsenen diesen Jugendlichen zumuten. Deshalb sind diese Jugendlichen auch unsere Opfer, und ihre Opfer sind deshalb auch die unsrigen.

Das haben vielleicht mehr Jugendrichter und -staatsanwälte begriffen, als man es ihnen gemeinhin zutraut, jedenfalls jene, die mit diesen Jugendlichen umgehen müssen und gezwungen sind, nicht nur Glatzkopfhorden, sondern einzelne junge Menschen wahrzunehmen. Es sind wohl zum Teil auch Richter, die in ihrer Berufssozialisation für sich entschieden haben, daß sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen dürfen. In diesem Punkt treffen sich Juristen aus Ost und West; diese mit der Verarbeitung eines politisierten SED-Strafrechts, jene mit den Erfahrungen aus der Verfolgung von Straftätern aus dem linken Spektrum und des Terrorismus. Sie stehen für eine Strafjustiz mit Vernunft und Augenmaß. Sie haben begriffen, daß man durch justitiellen Außendruck kriminelle Gruppen erst zusammenschweißen kann und ihnen die Märtyrer gibt. Und sie wissen auch, daß man gesellschaftliche Prozesse nicht mit den Mitteln des Strafrechts steuern kann.

Die dämliche Verdächtigung etwa, aus Sympathie oder Ahnungslosigkeit auf dem rechten Auge blind zu sein, fällt auf die zurück, die sie erheben. Bei allen Mängeln und Gegenbeispielen im Einzelfall, Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte 1993 stehen nicht in der Tradition (vom Kaiserreich bis in die jüngste Vergangenheit) rechtslastiger Handlangerrichter. Es geht aber nicht nur um Personen. Diskutiert wird eine Verschärfung des Sanktionsinstrumentariums, so als ob das vorhandene Jugendstrafrecht nicht ausreichend wäre. Es reicht sicher nicht für den kurzen Prozeß nach dem Motto: Einsperren, Schlüssel wegschmeißen!

Das Jugendstrafrecht ist aber erwiesenermaßen ausreichend, um das Nötige möglich zu machen, das heißt, junge Straftäter von weiteren Straftaten abzuhalten und Opfer zu schützen. So ist es oft ausreichend, Jugendliche auch gegen ihren Willen aus einer bestimmten Lebenssituation herauszunehmen und anderweitig unterzubringen (zum Beispiel auch in betreuten Arbeitsmaßnahmen im Ausland). Das beugt der Wiederholungsgefahr vor und schafft Voraussetzungen für einen Ausstieg aus der Szene. Die Beispiele ließen sich fortsetzen, in denen das Jugendgerichtsgesetz vielfältige Möglichkeiten bietet, Gruppen gewaltbereiter oder gewalttätiger Jugendlicher zu deorganisieren, sie in tolerable Freizeitaktivitäten einzubinden, in konformen Lebenslagen zu stabilisieren oder Auswege aus Gruppenzwängen zu weisen, Möglichkeiten, die das allgemeine Erwachsenenstrafrecht nicht kennt. Die Forderung, Teile der Heranwachsenden etwa dem allgemeinen Strafrecht zu unterstellen, hieße, diese Chancen des Jugendstrafrechts zu verspielen.

Das Gebot der Stunde lautet deshalb auf zweierlei Weise. Die praktischen Möglichkeiten des Jugendstrafrechts müssen ausgebaut werden. Nicht das Gesetz ist mangelhaft, wohl aber sind es oft die zur Verfügung stehenden Reaktionsressourcen und schließlich – und weil die Ultima ratio als letztes kommen muß –: Wer vernünftigen und einsichtigen Argumenten nicht zugänglich ist, wer andere massiv schädigt, wer aufhetzt und sich als gewalttätiger Leithammel inszeniert, muß wissen, daß ihm, um des Schutzes Unschuldiger Willen, im Zweifel der Knast sicher ist.

Das muß eine erlebbare Erfahrung dieser Gewaltszene sein, und der Sprache der Justiz darf es deshalb an Klarheit und Konsequenz nicht fehlen. Mit einem Strafmaß von bis zu zehn Jahren ist die Justiz für diese wenigen Ausnahmetäter auch bestens hochgerüstet.

Was bleibt ist: Die Jugend – zumindest ein Teil – protestiert, und sie hat auch – insbesondere im Osten – allen Grund dazu. Um die gesellschaftlichen Ursachen haben sich andere Verantwortliche zu kümmern, statt diese Last aus Unfähigkeit der Justiz zuzuweisen. Die Justiz tut ihren Job, sie schützt die strafrechtlichen Grenzen mit Augenmaß und Konsequenz. Sie sperrt ein, wo es aus Gründen des Opferschutzes unabdingbar ist. Sie läßt aber auch jungen Menschen die Möglichkeit zum Ausstieg aus der Gewaltszene und hilft im Rahmen ihrer Möglichkeiten, Lebenslagen konform zu stabilisieren. Dabei muß es bleiben. Beugte sie sich dagegen öffentlichem Druck oder denunziatorischen Verdächtigungen, stünde sie wieder in der Handlangertradition.

Die Autoren arbeiten als Jugendstaatsanwälte in Magdeburg