■ Der Historiker Arsenij Raginski über den Umgang der Russen mit ihrer Vergangenheit und mit ihrer Zukunft
: „Der Herren Streit ist dem Knecht egal“

Der russische Historiker Arsenij Raginski arbeitet für die Gesellschaft „Memorial“, die sich mit der Aufarbeitung der stalinistischen Verbrechen in der ehemaligen Sowjetunion befaßt. Sein Hauptthema ist die Beziehung zwischen Macht und Gesellschaft. Vor der Wahl Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU war Raginski vier Jahre wegen der Veröffentlichung historischer Dokumente inhaftiert.

taz: In den meisten osteuropäischen Ländern begann bereits kurz nach der „Wende“ die Diskussion über die sogenannte Lustration. Die Staatsangestellten sollten überprüft werden, ob sie für den Staatssicherheitsdienst gearbeitet hatten. Gibt es eine ähnliche Diskussion in Rußland?

Arsenij Raginski: Diese Diskussion gibt es auch in Rußland. Aber sie ist bei weitem nicht so intensiv wie in Ostmitteleuropa. Denn dort wurde das sozialistische Regime stets als Besatzungsregime begriffen. So ging es nicht allein um die „Stasi-Agenten“, sondern auch um all diejenigen, die biographisch und ideologisch mit Moskau verbunden waren. Natürlich gibt es auch bei uns die Meinung, daß der Bolschewismus Rußland aufgezwungen wurde. Die große Mehrheit der Bevölkerung sieht dies jedoch nicht so. Fast in jeder Familie gibt es Opfer der Repressalien, fast in jeder Familie gibt es aber auch Kommunisten. Sind es nicht die Eltern, so ist es ein Onkel oder eine Tante. Und auch eine kommunistische Tante ist eben in erster Linie eine Tante und nicht eine Kommunistin. Bei „Memorial“ vertreten manche jedoch auch die Meinung, daß die Führung gerade deshalb die Idee der Lustration nicht weiter verfolgt, weil sie ihr selbst zum Opfer fallen würde.

Daß man nicht gern gegen die eigene Tante vorgeht, ist verständlich. Wie aber ist es mit den „großen“ Kommunisten?

Bisher versucht niemand, sie zur Verantwortung zu ziehen. Viele ehemalige Parteifunktionäre spielen im politischen Leben weiterhin eine große Rolle, doch das interessiert die Menschen eigentlich nicht besonders. Jelzin selbst saß schließlich im Politbüro. Vor kurzem war ich in Tambow, das ist eine sehr konservative Provinzstadt. In Tambow gibt es jetzt einen Gouverneur, einen ehemaligen Chirurgen, der auch der Gebietsleitung der KPdSU angehörte. Dieser Gouverneur ist sehr unpopulär. Aber nicht etwa, weil er KP-Funktionär war, sondern weil er von Ökonomie nichts versteht. Erzählen Sie einem Arbeiter, daß sein Direktor für den KGB gearbeitet hat und ein fanatischer Kommunist war, dann wird der Arbeiter sagen, ich verdiene 135.000 Rubel und der im Nachbarbetrieb nur 20.000. Also ist es mir egal, wer er war. Sagen Sie aber dem Arbeiter, du bekommst nur 20.000 Rubel, weil dein Direktor im KGB war, dann wird er den Direktor hassen.

Im übrigen ist die Kampagne gegen den Kommunismus, die die Jahre 1988 und 1989 bestimmte, inzwischen beendet. Damals wurden die Verbrechen Stalins diskutiert, man zerstörte die sozialistischen Mythen, und die Menschen hörten auf, diese Mythen zu glauben. Damit war die Aufarbeitung der Vergangenheit für sie abgeschlossen. Andererseits hätte die Bevölkerung Rußlands wahrscheinlich gar nichts dagegen, all die Funktionäre, die Rußland in diese miserable Lage stürzten, morgen hinter Gittern zu sehen. Aber auf der Anklagebank würde man gerne nicht nur die früheren, sondern auch die jetzigen Minister sehen. Es ist den Menschen egal, ob einer Kommunist ist oder Antikommunist. Wenn wir eine Art „Nürnberger Prozeß“ durchführen würden, so wäre er wohl nur in der Intelligenz populär. Ich halte es aber dennoch für notwendig, die reale Rolle der Partei aufzuarbeiten. Dafür müssen Millionen Dokumente veröffentlicht werden. Dabei muß dann aber die ganze Wahrheit aufgedeckt werden. Zum Beispiel haben sich an der Enteigung der „Kulaken“ ja nicht nur die Parteimitglieder, sondern auch deren neidische Nachbarn beteiligt.

Sollte die russische Bevölkerung jedwede Obrigkeit in der von Ihnen dargestellten Form ablehnen, so stellt sich die Frage nach der Bedeutung der kommenden Parlamentswahlen.

Der Moskauer Wettkampf zwischen den politischen Parteien hat mit der Provinz nichts zu tun, dafür interessiert sich dort keiner. Die Oktoberereignisse ließen sie gleichgültig. Man sagt: Die Herren streiten, und das ist den Knechten egal. Ich besuchte jetzt zwei Provinzstädte. Ich war auf zwei Veranstaltungen, und dort ließen die Menschen kein gutes Haar an Jelzin. Das hatte aber mit der wirklichen Politik nichts zu tun. Es war eher eine Art von Ironie: „Was, ihr wollt euch ins Parlament wählen lassen? Und dann kommen neue Panzer.“ Und es folgte breites Gelächter. Die Fragen bei diesen Veranstaltungen waren ganz andere: Wie bekommen wir das Geld zurück, das wir auf den Sparbüchern hatten und das durch eure Reformen verlorenging? Wann werdet ihr uns die Löhne zahlen, auf die wir schon seit Monaten warten?

Beim Referendum hat jedoch auch die Provinz für die Reformpolitik Jelzins gestimmt.

Natürlich. Die Menschen haben die Nase voll von Planwirtschaft und kommunistischen Versprechungen. Sie wollen Reformen. Doch sie sagen: Seit zwei Jahren sprecht ihr von Wirtschaftsreformen. Bisher merken wir nichts davon. Fangt endlich mit diesen Reformen an. Kommunisten wie etwa der Vorsitzende der jetzigen KP der Russischen Föderation, Gennadij Sjuganow, werden nicht mehr an die Macht kommen. Und selbst wenn sogenannte Reformkommunisten irgendwann eine Mehrheit erhalten sollten, so wird es kein Zurück mehr geben. Auch sie werden für den Kapitalismus sein. Die drei reformorientierten Wahlbündnisse sind im Wahlkampf zwar jetzt Gegner und diskutieren heftig über ihre ökonomischen Programme, ihre politische Linie stimmt jedoch überein.

Seit den Oktoberereignissen ist es auch in anderer Hinsicht zu einer Spaltung der reformorientierten Intelligenz gekommen. Der eine Teil verteidigt die Auflösung des Parlaments und den Einsatz der Armee, der andere kritisiert die Menschenrechtsverletzungen.

Bei dieser Spaltung geht es nicht nur um Menschenrechtsfragen, die Spaltung ist ernster zu nehmen, sie geht tiefer. Diejenigen, die Jelzin kritisieren, zu Recht kritisieren, begründen ihre Position moralisch. Die Menschen, die Jelzin verteidigen, vertreten eine weniger moralische Position. Aber darüber sind sie sich auch selbst im klaren. Die älteren Menschen, insbesondere die ehemaligen Lagerhäftlinge, aber auch einige jüngere Intellektuelle sagen: Was erzählt ihr uns für einen Blödsinn über Moral und Menschenrechte. Entscheidend ist etwas ganz anderes: Dort stehen die Faschisten. Wenn sie an die Macht kommen, kommt es morgen zu Pogromen. Die jüngere Generation, die sich speziell mit Menschenrechtsproblemen befaßt hat, sagt: Jelzin hat mit seinem Erlaß zur Auflösung des Parlaments alles verletzt, was es zu verletzen gab. Er provozierte die andere Seite zur Gewalt. Gegen die Parlamentsauflösung kämpften nicht nur Kommunisten, sondern auch Menschen, die ehrlich an die Verfassung glaubten. Und Jelzin bereitete mit dem Einsatz der Armee dem Glauben an Recht und Gesetz ein Ende. Wer hat nun recht? Eine solch wichtige Polemik hat es in den letzten Jahren in Rußland nicht mehr gegeben. Vielleicht ist es die erste wichtige Diskussion seit der Oktoberrevolution. Sie wird noch Jahre dauern. Schließlich wurde im Oktober eine der wichtigsten Entscheidungen für Rußland getroffen. Ich glaube aber auch, daß all diese Intellektuellen im Parlament zusammenarbeiten werden, weil die andere Seite immer noch sehr stark sein wird.

Gibt es eine ähnlich intensive Diskussion auch über die neue russische Verfassung?

Die Verfassung ist leider so schlecht, daß es müßig ist, über sie zu streiten. Es gibt jetzt zwei Standpunkte. Für die Verfassung oder dagegen. Denn ändern können wir sie vor dem Referendum am 12. Dezember nicht mehr. Mein praktischer Verstand rät mir, auf die Verfassung zu pfeifen und beim Referendum für sie zu stimmen. Weil dieses Parlament endlich zu arbeiten beginnen muß. Sehen wir es praktisch. Die Verfassung muß angenommen werden, und dann werden wir sie ändern.

Aber die Jelzin nahestehende Intelligenz hat sich doch an der Ausarbeitung der Verfassung beteiligt. Warum dann diese scharfe Ablehnung?

Natürlich gab es recht gute Juristen, aber sie haben nicht das Sagen. Wer aber hat das Sagen? Ich fragte die zehn wichtigsten Mitglieder der Regierung, wer Jelzin beeinflusse. Sie sagten 1.: niemand von uns. 2. Wir wissen es nicht. 3. Wir wissen nur, daß Boris Nikolajewitsch keine Zeit hat, all diese Texte durchzulesen. Jelzin muß also irgendwo einen Vertrauten haben, und ich bin mir sicher, daß dieser zusammen mit dem Präsidenten ins russische Bad geht und ab und zu ein Glas Wodka mit ihm trinkt. Aber gerade diesen Berater kennt niemand von uns. Das alles ist ziemlich erschütternd. Jelzin unterschreibt einen Erlaß, und dann stellt er plötzlich fest: Was ist das für ein Blödsinn? Wer hat das verfaßt? Und er fragt die Rechtsverwaltung, von der alle Verordnungen abgesegnet werden müssen. Und sie sagen, sie haben die Verordnung nie gesehen. Und dann fragt er seine Minister, seine Berater. Aber für alle ist der Erlaß völlig neu. Wer also hat ihn geschrieben? Das ist das höchste Staatsgeheimnis Rußlands. Interview: Sabine Herre