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Wo Politik Familiensache ist

■ Im brandenburgischen Neugrimnitz wurde der Bürgermeister bei Bier und Brause in der Dorfkneipe direkt gewählt

Neugrimnitz ist ein kleines, verschlafenes Dorf nördlich von Berlin und hat doch eine Besonderheit: Bei der gestrigen Kommunalwahl wurde der Bürgermeister auf einer Einwohnerversammlung direkt gewählt. Dieses Novum sieht das brandenburgische Wahlgesetz in Gemeinden unter einhundert Einwohnern vor, „um die Wahlen rationeller zu gestalten“, so der Leiter der örtlichen Wahlbehörde Bernd Krause. Neugrimnitz zählt nur 62 stimmberechtigte Bürgerinnen und Bürger.

Gegen zehn Uhr versammelten sich im Nebenraum einer örtlichen Gaststätte bei Bier und Brause 39 Neugrimnitzer. Zur Wahl für das Amt des Bürgermeisters stellte sich aber nur ein Kandidat, der parteilose Landwirt Wilfried Kornack. „Wenn sich ein anderer gefunden hätte, hätte ich gerne verzichtet“, meinte Kornack. Auf der Bürgerversammlung sei er letzte Woche zur Kandidatur überredet worden. Hätte Neugrimnitz keinen eigenen Bürgermeister gefunden, wäre das Dorf von der Kreisverwaltung Eberswalde zwangsverwaltet und später eingemeindet worden. „Wir wollten aber unsere Eigenständigkeit behalten“, begründete Kornack seine Kandidatur. „Wir wollen mitreden, wenn es um unsere Sachen geht.“

Bei der Kommunalwahl 1990 konnten die Bürgerinnen und Bürger hier noch einen eigenen Gemeinderat wählen, der über die Belange des Dorfes entschied. In Zukunft gibt es in Neugrimnitz nur mehr einen Hauptausschuß, der Beschlußvorlagen erarbeitet. Über die Vorlagen entscheiden dann wiederum die Neugrimnitzer in einer Einwohnerversammlung. Für die zwei Sitze im Hauptausschuß kandidierten gestern die Frau des Bürgermeisterkandidaten Gisela, sein Neffe Axel und ein Nachbar.

Die Bürgerinnen und Bürger von Neugrimnitz stellten sich, als der Wahlakt begann, in eine Reihe. An der Spitze der Schlange saß die ehemalige Bürgermeisterin und händigte Zettel aus, einen für die Wahl des Oberbürgermeisters und einen anderen für die Wahl der Hauptausschußmitglieder. Nur einzeln durften die Neugrimnitzer ihre Stimme in einem Nebenraum abgeben. Ein älterer Mann, der zu spät kam, wurde vom Wahlakt ausgeschlossen. „Die Sitzung war bereits eröffnet“, so der Wahlleiter. Der ältere Mann beschwerte sich lauthals. „Bei Honecker durften wir alle noch wählen.“

Während die ehemalige Bürgermeisterin und der Wahlleiter die Stimmen auszählten, bestellten die Bürgerinnen und Bürger noch mehr Bier und Brause. Feierlich wurde das Ergebnis bekannt gegeben: Wilfried Kornack erhielt 30 Stimmen und stand damit als erster Bürgermeister der gestrigen Kommunalwahl fest. Zusammen mit seinem Neffen und seiner Frau wird er im Hauptausschuß Beschlüsse vorbereiten. Als erste Amtshandlung will er im Ziethner Weg einen neuen Bürgersteig anlegen, erzählte er später in Gaststube, wo seine Wahl schließlich doch gefeiert wurde. Anja Sprogies

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