: Verwirrung statt Urteil
Am Tag der geplanten Urteilsverkündung im Mölln-Prozeß taucht ein neuer Tatverdächtiger auf / Geständnis nach Zech-Nacht ■ Aus Schleswig Kersten Kampe
Die Überraschung war perfekt. Das Oberlandesgericht in Schleswig trat gestern – als eigentlich die Urteile im Prozeß um die Morde von Mölln verkündet werden sollten – wieder in die Beweisaufnahme ein.
Zwei Tage zuvor hatte die Polizei in Brandenburg einen betrunkenen 25jährigen nach einer wilden Verfolgungsjagd verhaftet. Und der hatte dann behauptet: „Ich bin in Mölln dabei gewesen.“ Das schreckte Polizei und Bundesanwaltschaft auf. Denn es war die erste Selbstbezichtigung nach über 200 verfolgten Spuren, erklärte der Vertreter der Bundesanwaltschaft, Oberstaatsanwalt Klaus Pflieger.
Der Zweite Strafsenat des Oberlandesgerichtes Schleswig und die Verteidiger wurden informiert, der Zeuge Heiko M. aus Parey in Sachsen-Anhalt vorsorglich nach Schleswig gebracht. Denn der Beweisantrag der Verteidiger von Lars Christiansen und Michael Peters war von allen Prozeßbeteiligten erwartet worden.
Gestern wurde Heiko M. vor Gericht als Zeuge gehört. Die Beweisaufnahme wird am kommenden Mittwoch mit der Anhörung weiterer Zeugen fortgeführt. In seiner Vernehmung vor Gericht widerrief Heiko M. sein Geständnis. Das hatte er auch schon bei der Polizei getan, nachdem er wieder nüchtern war. Er sei noch nie in Mölln oder Schleswig-Holstein gewesen. Er könne sich an nichts mehr aus der Nacht zum 4. Dezember erinnern: „Ich hatte einen Filmriß.“
Am vergangenen Freitag habe er zunächst in einer Disco in Brandenburg seinen 25. Geburtstag gefeiert, und nach dem Genuß von „zehn bis 15 doppelten Schnäpsen“ sei er frühmorgens ins Auto seiner Freundin gestiegen und mit einem Mädchen in der Umgebung umhergefahren. An die Identität seiner Begleiterin konnte er sich angeblich ebensowenig erinnern wie an die Verfolgungsjagd, sein Geständnis oder daran, die Polizisten bedroht zu haben.
Am 23. November war M. seinen Angaben zufolge zu Hause, weil er krankgeschrieben war – ob wegen eines Meniskusschadens oder wegen einer Herz-Kreislauf- Erkrankung, wußte er allerdings nicht mehr. Dies bestätigten zwei Kripobeamte aus Kiel, die im Anschluß an die Aussage des Maschinenanlagenmonteurs als Zeugen gehört wurden. Die Beamten in Brandenburg hätten das Alibi des Mannes für die Nacht zum 23. November überprüft, erklärten sie.
Als Alibizeugen seien seine Eltern, seine damalige Freundin und sein Arbeitgeber in Frage gekommen. Die Eltern von Heiko M. konnten sich an die fragliche Zeit nicht mehr genau erinnern. Auch seine Freundin konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob er in der gemeinsamen Wohnung war. Ausgeschlossen habe sie jedoch, daß er sich zu diesem Zeitpunkt in den alten Bundesländern aufgehalten habe, erklärten die Beamten. Der Arbeitgeber, Geschäftsführer einer Schiffswerft, habe angegeben, daß M. in der Zeit vom 19. Bis 24. November krankgeschrieben gewesen sei.
Die Verteidiger der beiden Angeklagten bestanden darauf, daß weitere Zeugen gehört werden. Christiansen-Verteidiger Wolfgang Ohnesorge erweiterte seinen Beweisantrag und erklärte, er glaube nicht an den „Filmriß“ des Zeugen. Schließlich habe M. das Auto trotz einer langen Verfolgungsjagd sicher geführt. Zumindest das Ergebnis der Blutprobe über die Alkohlkonzentration wollen die Verteidiger abwarten. Das kann noch mehrere Tage dauern.
Der Vertreter der Bundesanwaltschaft Klaus Pflieger erklärte, selbst wenn der Zeuge gewußt habe, was er von sich gegeben habe, sei es verfahrensirrelevant. Pflieger sprach sich dafür aus, den Beweisantrag abzulehnen: „Wer den Zeugen erlebt hat, muß davon überzeugt sein, daß er es nicht war.“ Klar sei für die Bundesanwaltschaft auch, daß M. betrunken gewesen sei. „Wer daran zweifele, ist lebensfremd.“
Doch der Zweite Strafsenat folgte dem Antrag der Verteidiger auf Wiedereintritt in die Beweisaufnahme. Das Gericht will jede Möglichkeit für eine Revision des Urteils vermeiden. Der Vorsitzende Richter Hermann Ehrich erklärte: „Wir haben uns entschieden, den beschrittenen Weg zu Ende zu gehen, nachdem diese Sache an die große Glocke gehängt wurde.“ Es seien nach der Vernehmung des Zeugen M. noch Fragen zur Alkoholisierung und zum Alibi offen geblieben.
Ehrich: „Wir wollen nun auch dies, nachdem wir soviel getan haben, sauber zu Ende führen.“ Denn aus der Frage, ob M. nun so betrunken gewesen sei, wie er vor Gericht angegeben habe, ergäben sich auch Anhaltspunkte für seine Glaubwürdigkeit. Diese Entscheidung sei dem Gericht sehr schwer gefallen, sagte Ehrich. Doch, was in den vergangenen Monaten erarbeitet wurde, solle „nicht aufs Spiel gesetzt werden, durch eine Entscheidung, die fragwürdig ist.“
Nebenklage-Anwalt Hans- Christian Ströbele sagte, es falle ihm schwer, den Nebenklägern begreiflich zu machen, warum das Urteil nicht verkündet werde. Im Gerichtssaal waren Nazim, Faruk und Ahmed Arslan anwesend; sie haben bei dem Brandanschlag in Mölln im November letzten Jahres die Ehefrau und Mutter Bahide, die Enkelin, Tochter und Nichte Yeliz und Nichte Ayse Yilmaz verloren.
Möglicherweise wird am Mittwoch nach den Zeugenaussagen das Urteil gesprochen.
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