Sechs Jahre Haft für Markus Wolf

Ehemaliger Geheimdienstchef vorläufig auf freiem Fuß / Gericht beklagt Selbstdarstellung des Angeklagten / Modrows Statement: Aufklärung hat Krieg verhindert  ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Die Handschellen schnappten gestern im abhörsicheren Saal 01 des Düsseldorfer Oberlandesgerichtes (OLG) nicht zu. Markus Wolf, der langjährige Geheimdienstchef der DDR, muß vorerst nicht in den Knast. Der 4. Strafsenat des OLG verurteilte Wolf gestern zwar wegen Landesverrats in drei Fällen in Tateinheit mit Bestechung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren, aber die Haftverschonung wurde nicht aufgehoben.

Mit dieser Entscheidung sorgte der Senatsvorsitzende Klaus Wagner am Ende des umstrittenen Prozesses erstmals für eine aus Sicht des Angeklagten freudige Überraschung.

Solche „Milde“ hatte Verteidiger Johann Schwenn noch in seinem Plädoyer gänzlich ausgeschlossen. Sein Mandant, so des Verteidigers düstere Prognose vor gut einer Woche, werde am 6. Dezember „verurteilt und verhaftet“. Gemessen an der eisigen Atmosphäre, die während des gesamten Prozesses das Verhältnis zwischen der Verteidigung und dem Senatsvorsitzenden Klaus Wagner prägte, hätte kaum ein Prozeßbeobachter Wagner diese versöhnliche Geste zugetraut.

Im Gerichtssaal quittierten viele Besucher das Urteil mit Buh-, Schande- und Pfui-Rufen. Hans Modrow, der ehemalige DDR-Ministerpräsident, wertete es als „Skandal“, als ein Ergebnis der „Siegerjustiz“. Während Modrow noch einen der begehrten Plätze im Saal 01 ergattert hatte, mußten Gregor Gysi und etwa 100 weitere Interessierte draußen bleiben. Markus Wolf, der im dezenten dunklen Zweireiher erschien, nahm das Urteil äußerlich gelassen auf. Das Ergebnis sei „nicht überraschend“ lautete sein kurzer Kommentar. Eine Besucherin hatte dem immer äußerst gepflegt und elegant auftretenden ehemaligen Generaloberst zuvor drei kleine rosarote Glücksschweinchen geschenkt, die Wolf vor sich auf der Anklagebank in Position brachte. Vor der eigentlichen Urteilsbegründung ging der Senatsvorsitzende zunächst auf das Schlußwort des Angeklagten ein. Der hatte das Verfahren als ein mit einem „juristischen Mäntelchen“ verdeckten „politischen Prozeß“ bezeichnet und von einem „Etikettenschwindel“ gesprochen. „Keiner“, so Wolf wörtlich in seinem Schlußwort zum Ziel des Verfahrens gegen ihn, „soll mehr erhobenen Hauptes gehen dürfen, der an der Möglichkeit eines anderen Deutschland mit mehr sozialer Gerechtigkeit geglaubt hat.“ Der Senatsvorsitzende Klaus Wagner wies diesen Vorwurf gestern scharf zurück: „Es ist ein starkes Stück, der Justiz eines demokratischen Rechtsstaates zu unterstellen, Rache üben zu wollen“.

Und dann ging Wagner Wolf persönlich an. Sein Fehlurteil über den Rechtsstaat beruhe offenbar auf seinen Erfahrungen mit der gelenkten Justiz in den realsozialistischen Staaten. Da habe Wolf wohl etwas „grundsätzlich mißverstanden“. Tatsächlich sei Wolf ausschließlich wegen seiner Beteiligung und „persönlichen Schuld“ an gegen die Bundesrepublik begangene Straftaten verurteilt worden. Immerhin, Wolfs Einschätzung, daß der Prozeß gegen ihn gar nicht stattgefunden hätte, „wäre ich vor den Siegern zu Kreuze gekrochen“, bestätigte auch der Senatsvorsitzende. Ja, es seien Verfahren gegen aussagewillige Offiziere der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) eingestellt worden, aber Wolf sei „nicht berechtigt“, sich über diese Menschen, die die „Pflichten gegenüber dem neuen Staat“ höher bewertet hätten als alte HVA-Loyalitäten, zu erheben.

Erneut setzte sich Wagner klar vom Berliner Kammergericht ab. Dessen Erwägungen seien „nicht stichhaltig“. Das Kammergericht hat das Verfahren gegen den Wolf- Nachfolger Werner Großmann ausgesetzt, weil es in den Prozessen gegen die HVA-Offiziere den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes und das Völkerrecht verletzt sieht. Darüber wird das Bundesverfassungsgericht wohl im nächsten Jahr entscheiden.

Konkret wurde Wolf gestern wegen der aktiven Mithilfe und Steuerung des Landesverrates durch die verurteilten Agenten Günter Guillaume (13 Jahre), Alfred Spuhler (10 Jahre) und des gerade erst verhafteten Topagenten Rüdiger Rupp (Topas) verurteilt. Wagner hielt Wolf gestern vor, daß die HVA zumindestens in einigen Fällen bei der Rekrutierung von Agenten sich des „Zwanges“ und der „Nötigung“ bedient habe. Außerdem sei Wolf für zahlreiche Desinformationskampagnen der HVA verantwortlich. Als besonders schäbiges Beispiel nannte Wagner eine gefälschte Skizze einer KZ-Baracke, mit der der ehemalige Bundespräsident Heinrich Lübke als KZ-Architekt im Stern denunziert worden war.

Der Senatsvorsitzende zu Wolf: „Was das mit der immer wieder beschworenen Friedenssicherung zu tun hatte, bleibt das Geheimnis des Angeklagten.“ Daß solche miesen Methoden – bis hin zum Bombenterror gegen Greenpeace – auch von westlichen Diensten gepflegt wurden, kam im Düsseldorfer Gerichtssaal nicht zur Sprache. Alle entsprechenden Beweisanträge scheiterten am Senat. Für Hans Modrow hat das Gericht sich nur mit Nebensächlichkeiten beschäftigt. Ihm ist klar, daß die Aufklärung beiden Seiten dazu gedient hat, die wahren Absichten des Gegners zu erkennen. Modrow wörtlich: „Dadurch wurde verhindert, daß der kalte Krieg ein heißer Krieg wurde.“