: „Geständniszwang“ verzögert Möllner Urteile
■ Trinker bezichtigt sich des Brandanschlags
Schleswig (taz) – Verbrechen haben etwas Faszinierendes – und machen ihre Täter berühmt. Und so gibt es immer wieder Menschen, die sich einer Tat bezichtigen, die sie nie begangen haben. „Geständniszwang“ nennen Juristen dieses Phänomen. In einem der spektakulärsten Prozesse der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte – dem Verfahren um die Morde von Mölln – brachte dieses Phänomen den Verfahrensablauf kräftig durcheinander.
Eigentlich wollte der II. Strafsenat des Oberlandesgerichts in Schleswig gestern die Urteile verkünden. Die Angeklagten Michael Peters (26) und Lars Christiansen (20) werden beschuldigt, im November letzten Jahres im schlweswig-holsteinischen Mölln eine Frau und zwei Mädchen durch einen Brandanschlag getötet zu haben. Motiv: Rassismus. Die Bundesanwaltschaft hatte für Peters wegen dreifachen Mordes, mehrfachen Mordversuchs und besonders schwerer Brandstiftung eine lebenslange Freiheitsstrafe gefordert. Der Heranwachsende Christiansen soll für zehn Jahre hinter Gitter – die Höchststrafe im Jugendstrafrecht. Doch statt der Urteilsverkündung gab es im Gerichtssaal eine kleine Sensation: die Verteidiger der Angeklagten präsentierten einen neuen Tatverdächtigen, der gestern vor den Schleswiger Richtern aussagte. Heiko M. hatte sich am Wochenende als Möllner Brandbombenwerfer ausgegeben: „Ich war in Mölln dabei!“
Doch offenbar ist dieses Geständnis einer Suff-Phantasie entsprungen. Heiko M. hatte sich nach seiner Geburtstagsfeier am Samstag – „zehn bis fünfzehn Schnäpse“ habe er sich gegönnt – eine wilde Autojagd mit der Polizei geliefert. Als diese ihn schnappte, gab er sich als Mörder von Mölln aus. Kaum war er wieder nüchtern, widerrief er sein Geständnis: „Ich hatte einen Filmriß!“ Auch vor Gericht sprach er von Gedächtnisschwund im Vollrausch.
Nach seiner Vernehmung schien es allen Prozeßbeteiligten offensichtlich, daß Heiko M. einem Geständniszwang unterlegen war.
Doch die Verteidiger der Angeklagten klammern sich an den dünnsten Strohhalm. Und so mußte das Gericht gestern – um jede Möglichkeit eines Fehlurteils auszuräumen – erneut in die Beweisaufnahme eintreten. Bericht Seite 5
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