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Der einarmige Bandit

Boris Beckers erster Auftritt beim Grand-Slam-Cup war schon sein letzter / Er verlor gegen Wayne Ferreira (Südafrika) mit 5:7, 4:6  ■ Aus München Matti Lieske

Winston Churchill mochte bekanntlich Statistiken nur trauen, wenn er sie selber gefälscht hatte. Mit Meinungsumfragen, hätte es sie zu seiner Zeit schon in ähnlicher Fülle gegeben wie heute, wäre er sicherlich ähnlich verfahren. 55 Prozent, so behauptet eine Umfrage des Spiegel, würden sich lieber ein Match von Michael Stich im Fernsehen ansehen, nur 28 Prozent entschieden sich für den 26jährigen Altmeister. Das, mit Verlaub, ist unmöglich. So dumm können selbst die Deutschen nicht sein.

Nichts gegen Michael Stich, er spielt derzeit fast perfektes Tennis, das hin und wieder wunderschön anzusehen ist, und meistens gewinnt er auch noch, was möglicherweise das ist, was die 55 Prozent gern sehen. Becker verliert, aber nach wie vor hat er das, was sein Vater, laut Programmheft des Grand-Slam-Cups in München, einmal unvergleichlich beschrieb: „Ich weiß zwar nicht, woher er es hat, aber der Bub hat Charisma.“

Keiner hat so viele Wandlungen durchgemacht wie er: Vom treuherzig-kindlichen 17jährigen Wimbledongewinner zum 19jährigen Sexprotz, vom braven Propagandisten deutscher Tüchtigkeit zum potentiellen Hausbesetzer und Hobbyphilosophen, vom smarten Geschäftsmann zum leicht abgedrehten, treusorgenden Familienvater mit dem Outfit eines abgebrannten Desperado und dem erneuten Hang zu schlüpfriger Metaphorik: „In diesem Jahr ist mir mein bester Schuß gelungen. In fünf Wochen zahlt er sich aus.“

Keinem wurde so oft nachgesagt, daß er am Ende sei, keiner zog sich so oft am eigenen Schopf aus dem Sumpf, und jedesmal lagen ihm wieder alle zu Füßen: 1988, als er nach einem verkorksten Jahr plötzlich den Davis-Cup gewann, 1992, als er im Sommer Tennis spielte wie ein gichtiger Elefant und im November ATP- Weltmeister wurde. 1993 ging die Phönix-aus-der-Asche-Nummer ausnahmsweise mal schief, weil er sich wegen „Barbara“, wegen der Trennung von Tiriac, wegen einiger Probleme „zu Hause“ nicht „hundertprozentig auf Tennis fokussieren“ (sic!) mochte. Eigentlich nimmt ihm das keiner richtig krumm, ihn selbst scheint es dennoch mächtig zu wurmen. Nach erstaunlich kurzer Babypause, im Grunde verpaßt er nur die Australian Open, will Becker bereits im Februar wieder Turniere spielen und mit neuem Trainer – vermutlich Nick Bollettieri, bei dem er sich in Florida schon auf den Grand-Slam-Cup vorbereitete – schnellstens wieder unter die ersten fünf der Weltrangliste. „Ich erwarte von ihm, daß er mir hilft, wieder besser Tennis zu spielen“, sagt Becker über die mögliche Zusammenarbeit mit dem rüstigen Entdecker von Seles, Agassi und Courier, dessen Präsenz in München Ex-Coach Eric Jelen im Handumdrehen vergraulte.

„Heute waren keine Spiegel-Leser anwesend“, meinte Boris Becker süffisant nach seinem ersten und letzten Auftritt in der Münchner Olympiahalle. In der Tat hatten ihn die 10.600 Zuschauer beim triumphalen Einmarsch zu den Klängen der „Grand-Slam-Cup- Hymne“, die sich an „Also sprach Zarathustra“ anlehnt und eigens für den Nietzsche des Tennissports komponiert scheint, mit Ovationen empfangen, als habe gerade er den Davis-Cup gewonnen. Verabschiedet wurde er ebenfalls mit Applaus, obwohl er recht sang- und klanglos gegen den Südafrikaner Wayne Ferreira mit 5:7, 4:6 verloren hatte.

Dabei schien alles gerichtet für ein neues Heldenstück. Er fühle sich „fit und frisch“, hatte Becker zuvor verlauten lassen, und von Anfang an widerlegte er die bösen Zungen, die behaupteten, er sei in Florida lediglich beim Friseur gewesen. Wesentlich flinker als in den letzten Turnieren, wo er die Beweglichkeit eines Ozeandampfers besessen hatte, stürmte er ans Netz, obwohl sein Volleyspiel natürlich nichts von der ätherischen Eleganz eines Stefan Edberg hatte, der im Spiel zuvor Todd Martin hinweggefegt hatte. Selbst Beckers Volleystopps sehen noch aus, als wolle er einen Baum fällen.

Der Höhepunkt kam schnell. Im sechsten Spiel des ersten Satzes verschaffte er sich mit knallharten Returns und saftigen Passierschlägen fünf Breakbälle zum 4:2. Die Halle tobte, doch Ferreira schlug Asse, und nahezu jeder im Saal hätte für einen sofortigen neuerlichen Sportboykott gegen Südafrika auf der Stelle seine Unterschrift geleistet. „Für das verpaßte Break habe ich später bezahlt“, sagte Becker. Es war die frühe Wende, denn es zeigte sich, daß der in der Weltrangliste auf Nummer 11 abgerutschte Deutsche enorme Schwierigkeiten mit der Rückhand hatte, was vermutlich daran lag, daß Nick Bollettieri seinen Eleven in der Regel die beidhändige Rückhand eintrichtert und sich noch nicht recht auf seinen neuen einarmigen Banditen umstellen konnte. Außerdem unterliefen Becker zehn Doppelfehler, Ferreira dagegen spielte, wie man es von einer Nummer 22 füglich erwarten kann: Solide, ohne Höhepunkte, aber um ihn zu einem Fehler zu zwingen, mußte sein Gegner eine Menge tun.

Beim Stand von 4:5 im zweiten Satz hätte eigentlich der berühmte Beckersche Umschwung kommen müssen, doch nicht nur die werdende Mutter und Ehefrau, die die Halle bereits verließ, ahnte, daß daraus diesmal nichts werden würde. Mit einem heroisch erlaufenen Stoppball verwandelte Becker die Halle noch einmal in ein Tollhaus, aber dann, als alle forderten: „Jetzt geht's los“, war es vorbei, und zum Abschied mischten sich in den wohlwollenden Beifall auch einige Pfiffe. Daß es sich dabei um Stich-Anhänger handelte, darf bezweifelt werden. Andererseits ist jeder Stich-Fan ohnehin nichts anderes als ein enttäuschter Becker- Fan.

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