Sanssouci: Nachschlag
■ Ignaz Kirchner las aus "ich will kein inmich mehr sein" im DT
Ignaz Kirchner rollte monoton ein Häufchen blauer Murmeln hin und her und sonderte die kleinste Kugel schließlich ab. Dann begann der Schauspieler zu lesen. Buchstabe für Buchstabe – genauso wie Birger Sellin sein Werk „ich will kein inmich mehr sein“ den Text erschaffen hat. Der zwanzigjährige Birger Sellin ist Autist, seit seinem zweiten Lebensjahr hat er nur einen Satz gesprochen: „Gib mir meine Murmel wieder“ forderte er seinen Vater damals energisch auf. Im August 1990 aber drang mit Hilfe eines Computers die erste Botschaft aus seinem „autistischen Kerker“. Seine Mutter stützte ihm den Arm beim Tippen. Birger Sellin berichtet aus seiner „personenkiste“, vom „innerweltskasten“, von seinen Qualen und Ängsten, vom Ärger und Gefangensein in der Einsamkeit.
In langsamem Takt schlug Ignaz Kirchner den Zeigefinger auf die Tischkante, geführt und gestützt von der zweiten Hand. Stotternd näherte er sich Sellins Text. Die Gesichtszüge verkrampften sich. Seine Artikulation wurde zur Geburt der Worte. Bei der geringsten Unruhe des Publikums im Foyer des Deutschen Theaters forderte Kirchner mit Blicken Aufmerksamkeit für den Text ein. Den Selbsthaß, mit dem Birger sein Nicht-Normalsein als „auswüchse elementarer bösigkeit“ bezeichnet und scharfsinnig in gesellschaftlichen Kontext stellt, übersetzte Kirchner mit schallenden Ohrfeigen, die er sich selbst gab.
Immer flüssiger las er das „quatschgebirge in potenz“, wie Selling seine Texte in Verzweiflungsmomenten selbst nannte. Es entsteht das Bild eines „innenmenschen“, der mal intelligent, mal witzig oder zutiefst ironisch, manchmal zynisch, resigniert oder wütend sein Leben reflektiert. Im Zentrum steht jedoch eine kaum nachvollziehbare Einsamkeit. Zu unbegreiflich ist die Kluft zwischen dem alles wahrnehmenden Innen-Ich Birgers und dem äußerlich wahrnehmbaren Menschen: debil sich schaukelnd und unvermittelt in Schreikrämpfe ausbrechend.
Das Wunder, daß Birger Botschaften aus seinem Kerker senden kann, ist nicht ungebrochen: Seitdem er allabendlich am Computer schreibt, häufen sich auch seine unkontrollierten Ausbrüche. Zweifel plagen ihn außerdem, wenn er sich als „verräter“ unter den Autisten begreift. Und das Mitgefühl der anderen, das Verständnis, ja vielleicht sogar die Liebe, die für ihn wächst, sie ist ja so einfach, wenn man es „nur“ mit einem Text zu tun hat. Birger Sellin ist aber auch ein „außergewöhnlicher terrorautist“ wider Willen, der unter den täglichen verstörten und mißtrauischen Blicken der Menschen um ihn und auch unter ungeduldigen Erziehern leidet. Genau das schien Ignaz Kirchner mit dem Blick ins Publikum zu sagen, als er sich mit den Schlußworten „ihr dunkler keinmensch birger“ verabschiedete. Petra Brändle
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