: „Leg die Gaswumme auf den Tresen“
■ Forum „Gewaltentwicklung bei Kindern und Jugendlichen und in Familien“ Von Paula Roosen
„Wenn ich zum Unterricht die Treppe raufkomme und sehe, wie ein am Boden Liegender wieder und wieder getreten wird, muß ich mich extrem zusammenreißen.“ Ausschnitt aus dem Schulalltag einer Lehrerin. „Am liebsten würde ich auch Gewalt anwenden. Aber das kann doch nicht die Methode sein“, fragte sie auf der Tagung der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) für Erziehungsberatung in die Runde. Zu dem zweitätigen Forum „Gewaltentwicklung bei Kindern und Jugendlichen und in Familien“ trafen sich in dieser Woche rund 280 Psychologen, Ärzte und Sozialpädagogen im Bürgerhaus Wilhelmsburg.
Ob die Aggressionsausbrüche an den Schulen zugenommen haben, darüber gibt es keine verläßlichen Zahlen. Da aber die Gewaltentwicklung sensibler verfolgt wird als noch vor zehn Jahren, werden auch mehr Fälle gemeldet. Unstrittig ist freilich, daß die Form der Aggression der Kinder und Jugendlichen sich verändert hat. „Wehrlose und Unterlegene wurden früher nicht so traktiert wie jetzt“, hat Elke Garbe beobachtet, die dem Vorstand der LAG für Erziehungsberatung angehört.
Manche Erzieher wissen nicht mehr, wie sie den Jugendlichen begegnen sollen. Nicht jeder hat die Nerven, die Heranwachsenden am Eingang des Jugendzentrums nach Waffen zu untersuchen oder sie mit einem saloppen „Leg die Gaswumme dort auf den Tresen“ zu begrüßen. Ein Betreuer einer Jugendwohnung, in der drei 16jährige leben, räumte auf der Tagung ein: „An einem Jungen bin ich regelrecht gescheitert.“ Der Jugendliche sei oft aggressiv und vollgekifft gewesen, habe ihn auch tätlich angegriffen. Schließlich habe er mit einem Luftgewehr aus dem Fenster auf das Nachbarhaus geschossen. „Er nahm nichts an“, erinnert sich der Betreuer, der sich bis zu 24 Stunden in der Wohnung aufhielt und schließlich - inzwischen schwer erkrankt - aufgab.
Die Erziehungsberater kamen auf dem Forum in einer Arbeitsgruppe überein, sich in kleinen Gruppen zusammenzutun, wenn eine Krisenintervention zu scheitern drohe. Vom Erfolg gemeinsamer Arbeit berichteten zwei Lehrer, die über drei Jahre einer Klasse als Duo vorgestanden haben. „Wir hatten die verbale Gewalt, die sexuellen Zoten, einfach das ganze Vulgärvokabular so satt“, berichteten sie auf der Tagung. Zu zweit hätten sie es geschafft, Grenzen zu setzen. Einer habe sich jeweils die Schüler vorgenommen, bei denen der andere „auszuflippen“ drohte. Nach einigen Monaten ging die sexistische Anmache im Unterricht deutlich zurück: „Es sind ohnehin immer nur einige, von denen Gewalt ausgeht, niemals alle.“
Es gibt Ansätze, der alltäglichen Gewalt zu begegnen: Mitarbeiter der Jugendgerichtshilfe etwa konfrontieren junge Gewalttäter mit ihren Opfern. Den meisten Beifall im Plenum des Forums fand die Forderung des Bielefelder Soziolgen Jürgen Mansel, die Lehrpläne zugunsten eines Dialogs zusammenzustreichen. „So wäre in der Schule Zeit für das, was den Schülern tatsächlich unter den Nägeln brennt.“ Ihre Perspektivlosigkeit, ihre familiären Probleme und ihre Träume.
„Es hat keinen Sinn, den Kindern das Kriegsspielzeug zu verbieten, wenn wir ihnen stattdessen keine Attraktionen anzubieten haben“, warnte die Osnabrücker Psychologin Heidi Keller in diesem Zusammenhang. Die individuelle Disposition zur Gewalt entstehe häufig in den Familien, in denen die Kinder keine verläßlichen Bindungen erleben. Die Ausrichtung der Gewalt werde aber erst viel später vom kulturellen Umfeld bestimmt.
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