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Ein Eldorado für Autofahrerinnen

Mietskasernen der Gründerzeit, Betonkästen der Neuzeit und ein überaus großzügiges Straßennetz: Auf vier Rädern ist man in Wolfsburg bestens aufgehoben  ■ Von Marita Vollborn

Ein langhaariger Endvierziger spült die Nacht mit einer Büchse Holsten hinunter. Hustend lehnt er sich an eine Bank gegenüber „Ullas Imbißbude“ und wischt sich mit dem Handrücken den Regen von der Stirn. Seine jeansumhangenen Beine wirken wie aufs Trottoir gespuckte Brocken des Himmels: schimmelfarbig und grauschwarz sind auch sie. Der Mann senkt den Kopf.

Passanten mit knallbunten Regenschirmen machen einen Bogen um den Penner und seinen angebrochenen Sechserpack Bier, übersehen oder mustern ihn. Der makellos gepflasterte Boulevard Wolfsburgs glänzt unter ihren Füßen wie lackiert. Kein senfbeschmierter Einwegteller, keine zerknüllte Folientüte, kein Papierbällchen verunziert die platanengesäumte Einkaufsmeile – einzig braungelb gefleckte Blätter treibt der naßkalte Septemberwind durch die Gassen der Betonlandschaft.

Der Dunst tagealten Fritierfetts mischt sich mit dem Duft von „Lulu“, „Joop“ und feuchtem Staub. Von der breiten vierspurigen Pestalozzistraße, die Wolfsburgs Geschäftsviertel zerschneidet wie die Elbe die Sächsische Schweiz, wehen Abgasschwaden herüber. Mannshohe Schaufenster funkeln rechts und links der engen, dann und wann überdachten Fußgängerzone. Fusselfrei strotzen hier Seiden- und Dekostoffe, Anzüge und Schuhe, Schmuck, Parfümflakons, Blüten und Gebinde aller Art und Größe in den Auslagen von Boutiquen, City-Centern und Blumengeschäften. Frauen und Männer, vom Freitagseinkauf ermüdet, rasten im Stehcafé „arko“, schütten eilig einen Mokka hinunter oder schwatzen kichernd bei einer Tasse Cappuccino. Ein grauhaariges Paar mit Aktentaschen und riesigen blauen Regenschirmen bahnt sich, leise fluchend, seinen Weg durch die wimmelnden Leiber. „Sauwetter“ steht in dicken, weißen Lettern auf ihren Schirmen geschrieben und: VW.

Wolfsburg, die Volkswagenstadt, prahlt nicht mit ihrem Geburtshelfer, sie zeigt Flagge. Überall auf dem Weg durch die Innenstadt begegnet man Europas größtem Automobilhersteller; sei es beim Bummel durch die autofreie „Porschestraße Mitte“, sei es, daß der Blick an einem der vier Schornsteine des insgesamt 7,5 Quadratkilometer riesigen Werksgeländes haften bleibt, oder sei es auch nur wegen der Schilder, die an jeder Kreuzung Unkundigen die Richtung weisen – in Wolfsburg führen alle Straßen irgendwie und irgendwann zu VW.

Die Geschichte der Stadt ist die Geschichte des Werkes. Anfang der dreißiger Jahre plante Ferdinand Porsche Stadt und Werk; 1938 barsten erst Ahorn- und Buchenstämme unter den Äxten der Rodekolonnen, ergraute das grüne Heideland: Straßen, Werkhallen und Mietwohnquartiere entstanden, wo zuvor Weißwurz und Aronstab blühten.

Mehr als ein halbes Jahrhundert später sind am Steimkerberg, Wolfsburgs ältestem Stadtteil, nichts als die Farben des Urstromtals übriggeblieben. Mattgrün, sanftgelb und blaßrot strahlen die zweietagigen, geradlinig-langen Häuserreihen. Wie eingeschüchterte Rekruten ducken sie sich an den Straßenrand. Auch die dunkelbraunen Fensterläden – anheimelndes Beiwerk einer Kasernenarchitektur – mildern die bauliche Strenge nicht.

Klein, fast übersehbar klein, prangt am Eckhaus zur Friedrich- Ebert-Straße ein schwarzes Graffito. Kaum 500 Meter davon entfernt folgt ein zweites Zeichen schüchterner Auflehnung. Zwischen chinesischem Ratskeller und Porsche-Denkmal, dort, wo eine Bleitafel dem deutschen Patriotismus huldigt, findet sich ein unscheinbares, ebenfalls schwarzes „A“. „Deutschland, du bist unteilbar“ schien leichte Beute für einen andersdenkenden Wortspieler gewesen zu sein: ein Strich genügte, und als „Deutschland, du bist unHeilbar“ mauserte es sich zum anarchistischen Pendant.

Der Weg zurück zur Pestalozzistraße und zum Auto, für das trotz des Freitagsverkehrs noch eine Parklücke zu ergattern war, führt an einer weißgetünchten Kirche vorbei. Von üppigem Nadelgrün umwachsen, leuchtet das Gotteshaus, als wolle es seine Reinheit erst dem Auge, dann dem Verstand des Betrachters demonstrieren.

Doch keiner der Vorübergehenden wagt einen Blick unter dem Schirm hervor, hinauf zu den freundlich blinkenden, bleiverglasten Fenstern, zum ziegelsteingedeckten Spitzdach oder zu den mit Begonien und Astern bepflanzten Beeten rings um das Portal. Mit eingezogenen Köpfen und zusammengekniffenen Augen übersehen sie wohl auch die benutzte Einwegspritze, die ein paar Schritte vom Fußweg entfernt neben einer faserigen Eibenwurzel auf dem frischgeharkten Boden liegt.

Der Fußmarsch zum Auto gleicht einem Waten in Lärm und Abgasgestank. Als endlich die Wagentür ins Schloß fällt, wird die plötzliche Ruhe fast körperlich spürbar, bleiben Gewühl und Hektik ausgesperrt. Auf vier Rädern ist man in Wolfsburg ohnehin gut aufgehoben; die Stadt ist ein Eldorado für AutofahrerInnen und besonders für diejenigen, die es werden wollen. Perfekt aufeinander abgestimmte Ampelanlagen ersparen Denkarbeit, die meist vierspurigen Straßen garantieren Platz und Übersicht, die genaue und vor allem rechtzeitige Ausschilderung wirkt beruhigend auf Blutdruck, Herzrhythmus und Transpiration. Wahrscheinlich gibt es keine andere deutsche Stadt, in der man Autofahren und Sightseeing so ungefährlich miteinander verbinden kann wie in Wolfsburg.

Tatsächlich zeigt sich die Weite der Stadtlandschaft, offenbart sich die Ausdehnung des Straßennetzes am besten während des Fahrens. Ganz gleich ob man sich in Detmerode, dem Stadtteil aus den sechziger Jahren, oder in Westhagen, einer Betonklotzinsel aus den Siebzigern, befindet, das Bild wandelt sich nicht. Wie angeklebt liegen die Häusergruppen um die Straßen, unterworfen einem straffen, beinahe rechtwinkligen System. In anderen deutschen Großstädten rissen die Bomben des Zweiten Weltkrieges Lücken in die Stadtlandschaft. In Wolfsburg taten das die Straßen und Freiflächen.

Gleichmäßig verteilt liegen sie zwischen den Ein- oder Mehrfamilienhäusern, den Wohnblocks und den öffentlichen Bauten, hingestreut zwischen die Betonpaläste der „Neuzeit“ und die Mietskasernen der „Gründerzeit“: die Sport- und Grünanlagen, Parks, Wiesen und Forsten. Stolze vier Fünftel nehmen sie vom gesamten Stadtgebiet, das etwa 20.000 Hektar groß ist, ein. Linden- und kastaniengesäumte Wege, auf Streichholzlänge gestutzte Rasenflächen, elliptische, runde, manchmal quadratische Koniferenpflanzungen und hölzerne, metallische oder marmorne Springbrunnen mit pedantisch arrangierten, wohlgepflegten Blumenrabatten lenken immer wieder von der architektonischen Tristesse des 20. Jahrhunderts ab.

Einziges Baurelikt mit historischer Vergangenheit und dem Charme einer adligen alten Tante ist die „Wolfsburg“ im Norden der Stadt. Eine breite, kopfsteingepflasterte Auffahrt führt direkt bis zum Eingang der Ritterburg, deren Giebel über Eiben- und Buchenwipfel ragen, als reckten sie sich stolz im Bewußtsein ihrer Unvergänglichkeit. Die Zeit scheint im Jahre 1583 stehengeblieben zu sein.

Das „am weitesten östlich gelegene Baudenkmal der Weserrenaissance“ war als Festung und Wohnhaus geplant und von Hans dem Reichen erbaut worden. Das wuchtige, wehrfähige Gemäuer hielt dem wohlhabenden Ritter sicher geldgierige Neider und machthungrige Widersacher vom Hals und schützte ihn und seine Familie vor den Mistgabeln wütender Bauern. Im Innern des alten Hauses sind die Kunstsammlung der städtischen Galerie und wechselnde Gemälde-, Graphiken-, Töpfer- und Plastikenausstellungen. Sie sollen die in Wolfsburg- Stadt darbenden Kunstliebhaber und Patinaanhänger entschädigen.

Auch Naturfreunde können auf Schloß Wolfsburg aufatmen. Zwar nimmt der beton-, stahl- und bitumengewöhnte Stadtbesucher nur langsam die grob gemähten, aber ungeschorenen Rasenflächen mit ihren hundertjährigen Eichen, Kastanien und Trauerweiden wahr, saugt dann aber endlich den Geruch nasser Stämme, welker Blätter und schwarzgrüner Brennesselinseln in die Lungen und schlendert zwischen Wassergräben und Entenscharen um das Schloß. Erst der Wind zerstört die Idylle: unbarmherzig treibt er den Brodem der Schornsteine durch die Äste der Bäume, verweht er die Illusion von reiner Luft. Auf dem Parkplatz steht ein roter Volkswagen.

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