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Algerien – verstrickt im Labyrinth

Nach den Soldaten und Polizisten geraten auch immer häufiger Intellektuelle ins Visier der islamischen Fundamentalisten

Feuchte Kälte dringt in den winzigen, gräulich getünchten Raum. Die unverglasten Fensteröffnungen sind durch Decken notdürftig verhängt. Karim hat hier, im Erdgeschoß einer verfallenden Kaserne im Viertel el-Biar, auf einer Anhöhe Algiers, mit Frau und sechs Kindern Unterschlupf gefunden. Zuvor teilte sich der 40jährige mit seiner neunköpfigen Familie eine Zweizimmerwohnung.

Karims fünfjährige Tochter Sara hockt auf dem eisigen Steinboden und starrt auf die Werbespots des französischen TV-Senders TF 1: kuschelige Wohnungsinterieurs mit strahlenden Kindern, blitzblanke High-Tech-Büros. „Da bekommen unsere Kinder wenigstens eine Vorstellung von einem anderen Leben“, lobt der strenge Moslem Karim – er ist Parteigänger der FIS, der verbotenen Fundamentalistenbewegung „Islamische Heilsfront“.

Obwohl Karim stundenlang die TV-Programme aus dem abendländischen Norden glotzt, ist er bereit, sich den antiwestlichen Glaubenskriegern der FIS anzuschließen. Seit dem Abbruch der Parlamentswahlen im Januar 1992 und der Einsetzung einer Junta durch die Armee machen islamistische Freischärler Jagd auf Amtsträger, Polizisten, Intellektuelle und neuerdings auch auf nichtmoslemische Ausländer. Die Behörden pferchten ihrerseits Tausende FIS-Anhänger in Lager in der Sahara. In den Kasernen und Kommissariaten kommt es regelmäßig zu Folterungen. „Wir wurden“, sagt Karim, „um unseren Wahlsieg betrogen. Jetzt werden wir anders an die Macht kommen. Ich warte nur mehr auf den Befehl meines Imam, zu den Partisanen zu stoßen.“ Die triste Häuserzeile, in der Karim wohnt, liegt fast in Sichtweite mehrerer Ministerien und schicker Villen der Staatsnomenklatura. In der einstigen Prachtmetropole Algier, die sich über einer schillernden Meeresbucht erhebt, haben ärmste Zuwanderer aus der Provinz, meistens Anhänger der FIS, allenthalben die alteingesessenen Städter umschlossen. Wobei die Politfront zwischen Pro- und Antifundamentalisten nicht nur quer durch die Viertel, sondern oft auch durch die Familien läuft. So zählen etliche hohe Amtsträger des Regimes in ihrer Verwandtschaft Personen, die sich den Islamisten angeschlossen haben.

Obwohl seit 1992 über 3.000 Personen bei Anschlägen der FIS und Aktionen der Behörden starben, wirkt Algier nicht wie eine belagerte Stadt. Dies sei eine neue Strategie, behaupten Sicherheitsbeamte: Fixe Straßensperren hätten sich als zu riskant erwiesen. Kürzlich wurden neun Gendarmen in el-Harrach, einem Vorort Algiers, aus vorbeifahrenden Autos erschossen.

So konzentrieren sich die Sondereinheiten der Armee auf punktuelle Razzien. Ende November umstellten Panzer die Kasbah, die unter der osmanischen Herrschaft im 17. Jahrhundert errichtete Altstadt im Herzen Algiers. Schwarz uniformierte und maskierte ninjas – eine Anti-Guerilla-Truppe, die laut Gerüchten in Nordkorea gedrillt wurde – stürmten die labyrinthartige Steilsiedlung, gleichzeitig überflogen Helikopter die verfallenden Terrassenbauten. Anderntags meldeten die Behörden, sie hätten etliche Verstecke der Freischärler ausgehoben. Ironie der Geschichte: 1958 eroberten französische Fallschirmspringer während der berühmten Schlacht um Algier die Verstecke der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN in der Kasbah – und verloren doch den Krieg.

So setzt die Militärführung hauptsächlich Spezialeinheiten ein, weil bei Rekruten und unteren Offiziersrängen der Einfluß der Islamisten stetig wächst. Zermürbend wirken auch die pausenlosen Attentate gegen jene Intellektuellen, die aufs Militär gesetzt hatten, um die Fundis abzuwehren (siehe Interview). Der Kleinkrieg hindert die entschlossensten FIS-Gegner nicht an Massenversammlungen. Die Kleinpartei RCD (Rassemblement pour la Démocratie), die jeden Kompromiß mit den Islamisten ablehnt, versammelte Ende November Tausende Anhänger, hauptsächlich aus der gebildeten Mittelschicht, in einem Sportstadion. Den meisten Applaus erntete eine junge Frau mit rotem Lockenkopf und einem blassen, angespannten Gesicht. Die Feministin und Mathematikprofessorin Khalida Messaoudi, 35. „Unsere erste Pflicht besteht darin, am Leben zu bleiben“, schmettert sie in den Saal. Danach, in einem Hinterzimmer, macht Frau Messaoudi ihrer Verzweiflung Luft: „Ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchstehen werde. Wenn ich in mein Telefonverzeichnis schaue, ist die Hälfte meiner Freunde entweder ermordet oder weggezogen.“

Der blutige Schattenkampf zehrt an der Moral

Leute wie Khalida Messaoudi bewundert der Arzt Abdel, „aber sie sind mit ihren Ideen um ein Jahrzehnt zu früh. An den Islamisten führt einstweilen kein Weg vorbei.“ Abdel, 33, der in Algiers größtem Krankenhaus arbeitet, klagt: „Es fehlt an allem. Ich verliere endlose Zeit, um Narkose- oder Röntgenmaterial aufzutreiben. Die Patienten müssen sich privat versorgen. Um so mehr staunte ich, als Joghurt an Kranke verteilt wurde – der ist unerschwinglich. Bis ich hörte, der wird von der FIS verteilt. Die Islamisten können also aus dem Untergrund heraus ihre Sozialtätigkeit fortsetzen. Die Patienten sagen: Der Klinikfraß war ungenießbar, aber die FIS hat mich verwöhnt.“

Das Gemetzel der letzten Wochen – insgesamt wurden seit September elf Ausländer und an die 400 Algerier getötet – könnte freilich als letztes Kräftemessen vor Verhandlungen zwischen Militärs und Fundis dienen. Der Rechtsanwalt Ali Haroun, 66, einer der fünf Mitglieder des „Hohen Staatsrats“, der kollektiven Präsidentschaft Algeriens, bestätigt, man erwäge einen Dialog mit „Persönlichkeiten aus dem Kreis der Ex- FIS, die sich keine Gewalttätigkeiten zuschulden haben kommen lassen“. Haroun, ein kleiner drahtiger Mann mit traurigem Blick, fühlt sich in seinem leeren Präsidentschaftsbüro sichtlich unbehaglich. Danny Leder, Algier

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