piwik no script img

Wer kommt nach József Antall?

Ungarischer Ministerpräsident gestorben / Ohne ihn ist die größte Regierungspartei nicht mehr als ein Sammelbecken rückwärtsgewandter Personen rechts von der Mitte  ■ Aus Budapest Keno Verseck

Westliche Nachrichtenagenturen hatten gestern um 14.13Uhr bereits den Tod des ungarischen Regierungschefs gemeldet. Die ungarische Nachrichtenagentur MTI sprach auf Anfrage von einem Übersetzungsfehler. Drei Stunden später jedoch gab ein Regierungssprecher den Tod von Jószef Antall bekannt. Der an einer Krebserkrankung des Lymphsystems leidende 61jährige Politiker war seit zwei Wochen in einem Krankenhaus behandelt worden.

Nicht nur die streng restriktive Informationspolitik über den Zustand Antalls ließ bereits am Wochenende darauf schließen, wie ernst es um Antall stand. Am Sonnabend hatte der ungarische Staatspräsident Árpád Göncz den Regierungschef im Krankenhaus besucht und ihm in einer feierlichen Zeremonie noch das Verdienst-Großkreuz der ungarischen Republik verliehen. In ebenso feierlicher Weise äußerte sich Göncz am selben Tag in einem Interview mit dem ungarischen Radio über die großen Verdienste, die Antall sich um Ungarn erworben habe.

Auf dem Parteitag des Ungarischen Demokratischen Forums (MDF), der am Wochenende stattfand, bezeichnete MDF-Geschäftsführer Sándor Lezsák den sich verschlechternden Zustand Antalls, der auch MDF-Parteichef ist, als „dramatische Wende“. Hinfällig dürften damit auch all jene hartnäckigen Beteuerungen sein, denen zufolge auf dem Parteitag nicht über einen Nachfolger Antalls geredet wurde.

Genau diese Frage ist es, welche die ungarischen Medien seit Wochen in Form von vorläufigen Nachrufen auf Ungarns Zukunft beschäftigt. Ein Zerfall des Landes, stürzende Regierungen, ständig schwankende Parlamentsmehrheiten, dauernde Neuwahlen, extremistische Koalitionen, soziale Erschütterungen und Unruhen – all das oder auch nur eines davon sei Ungarn, anders als allen anderen osteuropäischen Ländern, erspart geblieben.

Und das könnte sich jetzt ändern. Diejenigen in der größten Regierungspartei MDF, die als seine Nachfolger antreten könnten, haben Zweifel daran aufkommen lassen, daß sie Ungarn auch weiterhin auf dem stabilen Kurs halten würden, den Antall eingeschlagen hat.

Innenminister Pter Boross, der Antall während seiner Abwesenheit vertritt und als ein möglicher Nachfolger gehandelt wird, hat in den vergangenen Monaten wiederholt betont, daß er „Anhänger eines starken Staates“ sei. Er sieht den Hauptfeind im „neuzeitlichen Liberalismus, der das Individuum verabsolutiert und gemeinschaftliche Werte degradiert“; der nämlich stehe am „Anfang eines historischen Weges, dessen Meilensteine Krematorien und Gulags“ seien. Diese extremistische Variante jener Theorie, um die sich der deutsche Historikerstreit entspann, ist Boross offenbar gewillt, in die Tat umzusetzen: mit einem starken, aufgerüsteten Staatsapparat und der Orientierung auf nationale Werte.

Der politische Stil eines weiteren möglichen Nachfolgers ist ebenso wenig geeignet, Bedenken über Ungarns Zukunft aus dem Weg zu räumen. Der MDF-Mitbegründer Lezsák, nach Antall zweiter Mann im Forum, hat lange Zeit einen Ausschluß des rechtsextremistischen Dramenschreiber-Politikers István Csurka aus der größten Regierungspartei verhindert. Und das, obwohl jener in antisemitischen, nationalistischen Schriften offen zum Sturz Antalls aufrief. Csurka war zwar im Juni dieses Jahres dennoch aus dem MDF ausgeschlossen worden. Aber Lezsák, Schriftsteller und Rockoperndichter, bemüht sich derzeit unverkennbar um eine neue Annährung an Csurka. Als Geste des guten Willens bekam Csurkas Ungarische Gerechtigkeits- und Lebenspartei (MIÉP) kürzlich vier Ausschußsitze im Parlament vom MDF übereignet.

Die Csurka-Partei plädiert unter anderem für einen „Dritten Weg“ in der Wirtschaft, eine Abkopplung Ungarns vom Westen und die Säuberung der Medien, der Verwaltung sowie der Bildungseinrichtungen von in ihren Augen „antiungarisch“ Eingestellten.

Mehr oder weniger unklar ist auch auch die zukünftige politische Haltung zweier anderer möglicher Nachfolger Antalls: Lajos Für und Imre Kónya. Ersterer, der Verteidigungsminister, den eine Freundschaft mit Csurka verbindet, kultiviert in Äußerungen den Stil des reaktionären Ungarns der dreißiger Jahre und ist mit weit interpretierbaren Aussagen über ungarische Gebietsambitionen gegenüber Nachbarländern aufgefallen. Kónya, derzeitiger MDF-Fraktionschef, gilt zwar als treuer Parteisoldat des christdemokratischen Antall-Flügels im MDF. Doch er ist der Verfasser eines Papiers über die Säuberung der Medien von Regierungskritikern, das im Herbst 1991 den sogenannten „Medienkrieg“ einleitete.

Nun scheint es sich zu rächen, daß Antall, wie die Zeitung Népszabadság schrieb, „eine politische Ordnung errichtet hat, in der es für ihm ähnliche Personen keinen Platz gibt“. Ohne Antall ist das MDF nicht mehr als eine Sammelbewegung von Politikern und Ideologen, die in der ungarischen Vergangenheit leben und deren Überzeugungen weit rechts von der Mitte oder darüber hinaus angesiedelt sind.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen