Wahrhaftig, nur naiv

Die Generation von 68 und der Krieg  ■ Von Maruša Krese

Ancona. Blauer Himmel und Steinstufen, auf denen ich sitze und apathisch um mich schaue. Soldaten, Flugzeuge, die ich bisher nur im Film gesehen habe, oben Zucker und Decken und ein paar Journalisten. UNO-Fahnen, die Flagge Kanadas und deutsche und norwegische Fahnen. UNO-Soldaten, die emsig das Gepäck der Journalisten durchforsten, die Zigaretten, den Kaffee, die Briefe zählen, das Geld nicht. Die Sonne scheint.

Ein deutscher Offizier lädt mich zu einem Kaffee ein. Ich setze mich an einen langen Tisch, im Schatten der Bäume, zwei deutsche Soldaten schälen zum Mittagessen einen Apfel, andere packen mir Obst, frisches Brot und Bier ein, für den Freund in Sarajevo.

Endlich. Ich sitze in dem lärmenden Flugzeug, mit einer kugelsicheren Weste von fast 50 Kilo, Eigentum der slowenischen Polizei. Der deutsche Offizier bietet mir Stöpsel für die Ohren an, und ich starre ohne Unterlaß über die Berge von Fracht in das Heck des Flugzeuges, das sich langsam schließt. Bilder, immer wieder Bilder. Vor meinen Augen erscheinen Szenen aus dem Film „Hair“ von Milos Forman, auch die, in der Berger voller Verzweiflung durch das Heck des Militärflugzeuges marschiert, das nach Vietnam unterwegs ist. Welche Musik wurde in dieser Szene eigentlich gespielt?

Ich blicke aus dem Fenster. Noch immer scheint die Sonne. Ich blicke und blicke, doch ich sehe nichts. Der deutsche Offizier erzählt mir irgend etwas, ich lächle und nicke ihm zu. Ich höre nichts. Der deutsche Pilot sagt etwas zu mir. Ich sehe nichts. In einem deutschen Flugzeug fliege ich nach Bosnien. Es ist Krieg. Ich sehe meinen Vater. Wie wäre es, könnte er mich jetzt sehen.

Als ich klein war, bat ich ihn ständig, mit mir mit der Straßenbahn durch meine Heimatstadt Ljubljana zu fahren. Er war Nationalheld und beinlos, so daß er vorne einsteigen konnte. Ich war unheimlich stolz auf ihn. Wir fuhren durch die Stadt, und er erzählte mir Geschichten aus dem Krieg. Deutsche, Partisanen, Faschisten, Antifaschisten. Er war ein zu heldenhafter Partisan, und als solcher wurde er im Winter 1944 verwundet. Und da er derart heldenhaft war, wurde er Nationalheld, und weil er ein sterbender Nationalheld war, brachten sie ihn im Frühjahr 1945 in einem Flugzeug der Alliierten nach Ancona, in ein sicheres Krankenhaus. Jahre später, und wieder ist Krieg, Vater ist schon lange tot. Ich sitze im Flugzeug mit lächelnden deutschen Soldaten und fliege in die entgegengesetzte Richtung. Von Ancona in die „Science-fiction-Stadt“ Sarajevo.

Sarajevo. Science-fiction oder Konzentrationslager. Vielleicht beides zugleich. Ist das das Erbe, das die Generation meiner Eltern uns hinterließ, oder ist es das Erbe, das wir der Generation unserer Kinder hinterlassen haben? Mit Angehörigen meiner Generation sitze ich in Sarajevo, in der Redaktion von Radio „Wall“. Die Atmosphäre erinnert mich – mit dem kleinen Unterschied, daß es hier keinen Strom, kein Wasser, kein Benzin für die Aggregate und Folie anstelle von Fenstern gibt – an Radio „Student“ 1969 in Ljubljana, das wir als junge Leute ins Leben riefen, die damals von sich dachten, sie seien Revolutionäre. Eigentlich, wenn ich ehrlich bin, gehört einzig Zdravko Grebo, Professor an der juristischen Fakultät, der Begründer von Radio „Wall“, meiner Generation an. Er war, wie er selbst sagt, ein zufälliger Anführer der studentischen Unruhen 1968 in Sarajevo. Zufällig, weil an dem Tag, an dem das Wichtigste passierte, alle wieder ganz zufällig nach Belgrad verschwanden und von den „ideologischen Führern“ der jungen Revolution nur er und Radovan Karadžić übrigblieben, von dem schon damals gesagt wurde, daß er für die Polizei arbeitet.

Maruša, kennst du deine Generation nicht mehr? Du bist ohne einen Tropfen Alkohol nach Sarajevo gekommen. Im Grunde genommen waren wir die Haschisch-Generation, wenn ich mich recht erinnere... Ich bin mit Kaffee, Zigaretten, warmen Strümpfen, Antibiotika, Kerzen nach Sarajevo gekommen. Alkohol?

Ich stehe in Ancona vor einem kanadischen UNO-Offizier, der mich mit knallrotem Gesicht anschreit. Ich sehe ihn an, Tränen laufen über mein Gesicht, tausendmal habe ich alle Taschen durchsucht, das Gepäck. Ohne Erfolg. Ich war nämlich mal schnell auf den Alkoholmarkt von Ancona geflogen und hatte meinen Presseausweis in Sarajevo gelassen. Ich stehe vor dem Kanadier, der sich über mich lustig macht, denn ich kann ohne Presseausweis nicht zurück nach Sarajevo. Vom Pfeifen der Granaten und vom Lärm der Geschütze wache ich auf. In Sarajevo habe ich nur geträumt, daß ich nach Ancona geflogen bin, um Alkohol herbeizuschaffen.

Zdravko sagt: „Wieder einmal haben sie aus mir einen Esel gemacht wie schon so oft in meinem Leben. Ich bin nicht mehr wütend, auch nicht traurig... Wenn man nunmehr bedenkt, wer alles für die 68er-Idee und die Idee vom Jugoslawentum einstand und was daraus geworden ist, welche Motive und Manipulationen es eigentlich im Hintergrund gab.“

Meine Generation. Ich sitze neben der jungen Dichterin Maja, die so alt wie meine älteste Tochter ist. „Ich glaube niemandem mehr, nicht dir, nicht meinen Eltern, nicht meinem Lehrer. In den ersten Kriegsmonaten verging nicht ein Tag, ohne daß einer meiner Freund ermordet wurde. Sie alle machten sich in Tennisschuhen zur Verteidigung ihrer Stadt auf, der Stadt, in der Menschen lebten, die für ihre Toleranz und Offenheit im Gegenzug den Tod serviert bekamen. Krieg ist langweilig“, sagt Maja, „ich wünsche mir Coca-Cola und Filme. Coca-Cola und Filme.“

Ich höre Maja zu. Ich höre Maja und Zdravko zu, betrachte mein eingeschränktes Leben und mir fällt ein, wie wir vor 25 Jahren nach San Francisco unterwegs waren, und ich ertappe mich dabei, wie ich mit einem ägyptischen UNO-Soldaten flirte, damit ich es schaffe, alle Briefe mit nach Sarajevo hineinzunehmen. Ich betrachte meine alten Freunde, die an ihrer nationalistischen Selbstgefälligkeit ersticken, und ich denke an Majas Lehrer für Literatur, die in den Bergen rund um die Stadt sind und die, falls sie nicht selbst töten, doch zumindest den Befehl dazu erteilen. Wahrscheinlich haben sie die Beatles zu ernst genommen mit ihrem „Happiness is a warm gun“, allzu wörtlich.

Haben wir einst nicht gern gelebt und Theater gespielt und ein echtes Jahr 68 und ein richtiges Meer und eigentlich Glück gehabt, daß wir jene Jahre so erleben konnten? Romantik, sagen viele meiner einstigen Freunde. Meine Lieben, mein Leben war keine Romantik, sondern ganz wahrhaftig. Nur war ich „ein bißchen“ naiv und nahm an, daß noch so manch einer gern lebt. Hier irrte ich ein wenig.

Wir sitzen im Café der Galerie am Ufer. Maja und ihre Leute aus ihrer Generation tanzen, so daß auch der Krieg in Vergessenheit gerät. In voller Lautstärke ertönen Iggy Pop und „Money, money“, und auch von den Granaten ist nichts zu merken. Zdravko Grebo und ich sitzen da wie zwei zerknirschte Alte, und der 30jährige Semezdin Mehmedinović bringt uns zwei Wodka. „Leben sollt ihr, wenngleich eure Generation die Sache versaut hat“, lacht er.

Wir stoßen an und blicken auf die Tänzer, die „Kinder“, die trotz Krieg das Leben in ihre Hände nehmen. Wir erinnern uns an einstige Freunde, sozusagen an die Postjugoslawen und an unsere Generation, die sich an jenem Tag irgendwo in Frankreich versammeln. Das Motto des Treffens lautet: „Das Bild der Zerstörung und die Zerstörung der Bilder“, und ich sollte dort über „Meine Generation und den Krieg“ reden; ich betrachte die tanzende Maja.

Also, meine Generation und der Krieg. Zum Wohl. Auf den Vater, auf die Mutter, auf das Kind, dem wir aus purem Egoismus das Leben verwehrten.

Aus dem Slowenischen von Angela Richter