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Die innere Seite des Hauses

Sarajevos kulturelle Milieus leben von der Spannung  ■ Von Dževad Karahasan

Das bosnische Kultursystem, in seiner reinsten Form gerade in Sarajevo realisiert, ließe sich mit dem Attribut „dramatisch“ beschreiben und als Opposition zu etwas definieren, was man mit „dialektisch“ bezeichnen könnte. Das Grundverhältnis zwischen den Elementen des Systems ist die oppositionelle Spannung, sie kontrastieren miteinander und sind eben dadurch verbunden; die Elemente finden Eingang in die Struktur des Systems, ohne Eigenschaften einzubüßen...

Grundkennzeichen eines so konstituierten Kultursystems ist der Pluralismus, und damit stellt es genau das Gegenteil eines monistischen Kultursystems dar, das sich als dialektisch definieren ließe und das noch immer in den großen Städten des Westens überwiegt, in denen Vermischungen der Religionen, Sprachen und Völker stattfinden. Wenn in einem dramatischen Kultursystem das Grundverhältnis die Spannung ist, ist im dialektischen System das Grundverhältnis ein gegenseitiges Verschlingen oder, wenn es schöner klingen soll, das Aufgehen des Niedrigeren im Höheren, des Schwächeren im Starken. Jedem Glied des dramatischen Kultursystems dient der andere notwendigerweise als Beweis der eigenen Identität, weil sich die eigene Besonderheit in bezug auf die Besonderheit des anderen erweist und artikuliert, während in einem dialektisch konstruierten System der andere nur scheinbar der andere ist, in Wirklichkeit aber ein maskiertes Ich bzw. ein in mir enthaltener anderer ist. Das ist der Grundunterschied zwischen Sarajevo und den modernen babylonischen Vermischungen in den westlichen Städten, ein Unterschied, der nach einer Deutung verlangte mit Hilfe dieser flüchtigen und allzu technischen Beschreibung der Kultursysteme, die in diesen Milieus errichtet werden...

Die Bewohner Sarajevos leben in Häusern, die auf einem Hang erbaut sind, auf dem sich die Mahala erstreckt. Jedes dieser Häuser ist mit einer seiner Seiten, und zwar mit dem Gesicht, der Fassade, der Straße zugewandt, also der Stadt, der Čaršija, dem Zentrum, mit seiner anderen Seite hingegen dem Hang, der Natur, der Außenwelt. An der Vorderseite ist das Haus durch einen hohen Holzzaun, eine richtiggehende Wand abgeschlossen, die das Gesicht des Hauses von außen unsichtbar macht, an der Rückseite indes, an der dem Berg und der Natur zugewandten Seite, ist das Haus offen, nur symbolisch eingefriedet und ganz entblößt. Zu beiden Seiten des Hauses sind Höfe oder Gärten. An der Vorderseite, zwischen äußerer Wand und Gesicht des Hauses, ist der vordere Hof, der gänzlich geschlossen und von allen Seiten umbaut ist, an der Rückseite, vom Haus zum Hang hin, befindet sich der hintere Hof, der von einer Seite geschlossen ist (durch das Haus) und von der anderen Seite ganz offen... – Offensichtlich wiederholt sich in der Struktur des Hauses, in der Struktur und fuktionalen Distribution seiner Gärten, in spiegelbildlicher Weise das Spiel, das wir in der Struktur der Stadt und im Verhältnis zwischen Čaršija und Mahala beobachtet haben. Das Gesicht des Hauses ist [...] technisch geschlossen, denn es ist von der Straße, der Stadt und der Čaršija, von allem, dem es zugewandt ist, durch eine hohe Wand getrennt. Aber funktional und semantisch ist dieses Gesicht offen [...], weil von dieser Seite das Haus betreten wird, von dieser Seite die Gäste ins Haus kommen, mit dieser Seite das Haus lebt und durch diese Seite sich sein Austausch mit der Welt vollzieht. Die gegenüberliegende Seite des Hauses, die technisch offen ist, [...] ist funktional und semantisch geschlossen, denn auf dieser Seite wird aus dem Haus nur herausgegangen. Von dieser Seite kommen keine Gäste, werden keine Lebensmittel geliefert [...]; auf dieser Seite ist der Ausgang, den einzig die Hausbewohner benutzen, um in den Garten zu gehen, so daß von einer Kommunikation, einem Austausch zwischen Haus und Welt, der sich auf dieser Seite des Hauses abwickeln würde, nicht die Rede sein kann.

Aus dem Bosnischen von Klaus Detlef Olof. Wieser Verlag, Klagenfurt

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