: „Der Angeklagte ist wie ein Henker gefahren“
■ Staatsanwalt fordert im Prozeß gegen Polizeibeamten ein Jahr auf Bewährung
Gleich mehrere Male bemühte Strafverteidiger Doktor Jürgen Fleck in seinem Plädoyer überirdische Kräfte, um den katastrophalen Unfall auf der Schloßbrücke vom 6. März diesen Jahres zu erklären. „Der Unfall ist ein Werk des Schicksals. Eine schicksalhafte Verknüpfung führte zu dem Unglück.“ Er plädierte gestern für den angeklagten Polizisten Mike W. auf Freispruch, schickte aber kleinlaut den Antrag auf „hilfsweise milde Bestrafung“ hinterher, falls sich die Richter zu keinem Freispruch durchringen könnten.
Im Prozeß gegen den 31jährigen Polizeiobermeister W. schloß der Vorsitzende Richter Jürgen Malies gestern die Beweisaufnahme. Der Beamte wird beschuldigt, bei einem Notfalleinsatz fahrlässig zwei Kinder getötet und drei Menschen schwer verletzt zu haben. Auf sehr entschlossene Weise brachte der sonst eher emotionslos und unbeteiligt wirkende Staatsanwalt vor, daß W. „eindeutig pflichtwidrig“ gehandelt habe. Der Polizist hätte die Einsatzfahrt mit Sonderrechten nicht beanspruchen dürfen, da ihm die Funkleitzentrale nicht den Auftrag dafür erteilt hätte. Außerdem habe für den Beamten kein Grund vorgelegen, mit überhöhter Geschwindigkeit über die Schloßbrücke zu rasen. Angesichts dieses Fahrverhaltens meinte der Anklagevertreter: „Der Angeklagte ist wie ein Henker gefahren.“ Deshalb forderte er ein Jahr Freiheitsstrafe mit dreijähriger Bewährungsfrist und drei Monate Führerscheinentzug für den Beamten. „Ich verstehe nicht, wie W. heute wieder am Steuer eines Funkwagens sitzen kann“, schloß der Staatsanwalt sein Plädoyer.
Für Verteidiger Fleck stellt sich der Sachverhalt völlig anders dar. Der Blaulichteinsatz seines Mandanten sei berechtigt gewesen. Denn die Entscheidung für eine solche Fahrt liege im Ermessen des einzelnen Beamten. „Außerdem konnte der Angeklagte nicht wissen, daß es sich um einen falschen Alarm handelte.“ Die Schlägerei mit Messern, so der damalige Funkspruch, gehe auf einen anonymen Anruf zurück und habe sich als Falschmeldung entpuppt. Außerdem habe der Rollsplit auf dem Mittelstreifen den Unfall ausgelöst. Eine Behauptung, die der Verkehrsexperte Rau allerdings zurückgewiesen hatte. Bei niedriger Geschwindigkeit hätte der Unfall vermieden werden können. Die Mindestgeschwindigkeit des Fahrzeuges bezifferte er auf 77 Kilometer in der Stunde.
Von all diesen Ausführungen zeigte sich der Angeklagte unberührt. Erst am Ende des gestrigen Verhandlungstages sagte er: „Ich habe selber drei Kinder, ich weiß, wie sich die Eltern, die ihre Kinder verloren haben, fühlen müssen.“ Die Anteilnahme wirkte echt. Falls er zu einer Geldstrafe verurteilt werde, schlug er vor, das Geld der Familie zugute kommen zu lassen. Thomas Nagel
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen