■ Berlinalien
: Das Volksbegehren der Studenten

Für Rudi Dutschke war die Sache klar. „Die bedeutendsten Ansätze demokratischen Bewußtseins“ waren unter seinen Kommilitonen zu suchen. Über die Verbreiterung dieses „antiautoritären Lagers an der Universität“ wollte er die Gesellschaft als Ganzes erreichen.

Bei Demos, Go-ins und Sit-ins provozierte die Außerparlamentarische Opposition ganz bewußt, was sie bekämpfen wollte: den autoritären Charakter. Der Mann auf der Straße schäumte. Springers Blätter hetzten. Polizeimeister Kurras zückte die Pistole und gab der Studentenbewegung ihren tödlichen Startschuß. Das war 1967.

Heute liegt die Sache anders. Dutschkes Nachfolger studieren Informatik. Sie wollen den Berliner Senat nicht durch eine Revolte, sondern durch einen Volksentscheid stürzen. In Schlips und Kragen treten die Studenten vor die Presse. „Preußisches Pflichtbewußtsein“ bezeichnet manch einer als seine wesentliche Qualität. Per Plebiszit gegens Parlament heißt ihre Devise. 80.000 Unterschriften, nach Bezirken sortiert, braucht die 93er Außerparlamentarische Opposition — gemäß Artikel 39 Absatz 3 Verfassung von Berlin. Dann käme ein Volksbegehren zustande, bei weiteren 250.000 Unterschriften der ersehnte Volksentscheid. Im kommenden Frühjahr könnte ein gutes Viertel der BerlinerInnen, wie es heißt, „die Wahlperiode des Abgeordnetenhauses vorzeitig beenden“.

Eigentlich geht es gegen die Politik als Ganzes. Eine Regierung wünschen die Studenten, „die sich bewußt ist, daß die Bevölkerung nicht aus Stimmvieh besteht“. Und „eine Bevölkerung, die weiß, daß sie nicht alles hinnehmen muß, da sie auf demokratische Weise Druck ausüben kann“. Im berlinischen Abgeordnetenhaus heißt man diesen Druck als Mittel gegen Politikverdrossenheit willkommen. „Wir freuen uns, daß die Studenten jetzt wieder ein bißchen politischer sind“, sagt der Fraktionssprecher der Sozis im Abgeordnetenhaus.

Sein CDU-Kollege meint, für die Abgeordneten der CDU sei das Volksbegehren „kein Thema“. Noch ist es keins. Noch haben die Parlamentarier nicht verstanden, was da vor sich geht. Weit über die Hälfte der benötigten 80.000 Unterschriften sind eingeheimst. Längst sind die 700 SammlerInnen aus den Elfenbeintürmen der Berliner Universitäten ausgebrochen. Der Mann auf der Straße, autoritärer Charakter hin oder her, soll unterschreiben.

Die Studenten initiieren damit das erste Volksbegehren in Berlin, das aus dem Volke selbst kommt. Ganz anders, als Rudi sich das einst dachte, gerieren sich die Studenten als „bewußteste und aktivste Opposition gegen die Entdemokratisierung der Gesellschaft“. Das jetzige Abgeordnetenhaus war 1990 für ein Jahr länger als die übliche Wahlperiode gewählt worden. Mit einem „schönen Weihnachtsgeschenk“ wollen die StudentInnen die Große Koalition früher entlassen. Frohe Weihnacht! Christian Füller