Inner City / Inter City

Von der Künstlichkeit öffentlicher Räume: „Alexanderpolder – New Urban Frontiers“ Symposien, Ausstellungen und Architekturpläne für eine neue Rotterdamer Vorstadt  ■ Von Jochen Becker

„Suburbanisation“ heißt das Schlagwort der städteplanerischen Zukunft in Europa, deren Wahrzeichen die Bebauung rund um die Flughäfen bei Frankfurt oder München, die Planungen entlang des Autobahnrings um Berlin, Großprojekte wie ein überdimensional ausgebauter ICE/TGV- Knoten in Lille oder der Wandel eines Rotterdamer Vororts zu einem neuen stadtähnlichen Areal bilden. Bisher namenlose Gebäudeballungen an den zukunftsträchtigen Verkehrswegen (Flugzeuge, Schnellzüge, Autobahn, Daten- Highways) werden – so die These der Rotterdamer Veranstaltung AIR-Alexander – den klassischen, geschichtsträchtig gewachsenen Innenstädten den Rang ablaufen. Wohnen und Arbeiten im Grünen wachsen an linealgerade geplanten Straßen und Gleisen zusammen, bis ihre Verdichtung die Vegetation entweder als Restanlage einschließt oder noch weiter nach draußen verschiebt. Das hat Konsequenzen für die zukünftige Gestaltung dieser wuchernden Neuansiedlungen, aber auf ganz andere Weise auch für die Planung der vernachlässigten Innenstädte. Und daran anschließend: Wie orientieren sich die Künste, wenn mit der City auch die Museen und Theater an Bedeutung verlieren?

In regelmäßigen Abständen veranstaltet die Rotterdamer Kulturbehörde Symposien über nationale und internationale Bauentwicklungen. Diesmal konzentrierte sich „Architecture International Rotterdam“ (AIR) auf ein Terrain nordöstlich der Innenstadt. Das mit dem Kunstnamen „Alexanderpolder“ zusammengefaßte Gebiet aus zahlreichen Satellitensiedlungen zwischen Maas, Rotte, Ijssel und Autobahnen ist zehn S-Bahn-Minuten vom Zentrum entfernt. Verwaltungstechnisch stoßen hier die rote Metropole Rotterdam und die calvinistisch geprägte Gemeinde Cappelle aufeinander.

Hat bald jedes Dorf seine Suburbs?

Obgleich kaum jünger als Rotterdam selbst – die Großstadt wurde nach dem massiven deutschen Bombardement in der Nachkriegszeit nahezu vollständig neu konzipiert und aufgebaut –, umfaßt das trockengelegte Sumpfland „Alexanderpolder“ eine heterogene Ansammlung von Wohnsilos, Zweckgebäuden, Büros und Einkaufszentren. Das Leben findet hier kaum mehr auf der Straße statt, sondern im privaten Heim, in der Gemeinschaft der Fernseher oder auf dem Weg zum Arbeitsplatz. In einem Kraftakt kurz vor Toresschluß – die vereinzelten Ansiedlungen haben sich eher zufällig und entgegen zahlreicher Planungsvorschläge schon ineinander verschränkt – soll nun dem Konglomerat Form gegeben werden. Hierzu wurden sechs Architekturgruppen (Rem Kohlhaas, Robert Geddes, Manuel de Solà-Morales, Endry van Velzen, Adrian Geuze und Wolfgang Engel/Klaus Zillich), erstmals aber auch Künstler (Hans Aaarsman, Korrie Besem, Jean Louis Schoelkopf, Nick Waplington und Manfred Willmann) sowie Autoren und Filmemacher für Erkundungen, konzeptuelle Studien und Planungsvorschläge hinzugezogen. Planungsunterlagen zum geplanten „Children's Pavillion“ von Dan Graham und Jeff Wall im Museum Boymans-Van Beunigen oder die Jef-Geys-Präsentationen im Kabelnetz und im Kunstraum Witte de With ergänzen das Programm.

Wie die zentrale Ausstellung in der Kunsthal und das zweitägige Symposium zeigten, suchten die Veranstalter nach grundlegenden Skizzen zur allgemeinen Bestandsaufnahme der jeweils sieben Kilometer langen und einen Kilometer breiten Terrains und weniger nach konkreten Bauvorhaben. Die Vorschläge von Robert Geddes und Rem Koolhaas steckten dabei die ganze Spannbreite des Vorhabens ab. Während der gediegene Architekt aus Princeton mit konkret ausgeformten Modellen für ein Bio- Technologiezentrum mit „High Density“-Friedhof entlang der Autobahn-Magistrale warb, hielt der Rotterdamer Konzeptualist Rem Koolhaas anläßlich des AIR-Symposiums einen atemlos-polemischen Vortrag über den holländischen Mythos „Randstad“: Rotterdam, Amsterdam, Den Haag und Utrecht bilden nach diesem Entwicklungsplan von 1958 einen Großstadt-Ring um das „Grüne Herz“. Doch rechnet man die Stadtbewohner von der Anzahl der Bevölkerung in der gesamten Region ab, verbleibt die unfaßliche Zahl von 4,5 Millionen quasi „verlorengegangenen Leuten“, die eben nicht in der Randstad wohnen. Die „weißen Stellen“ in der Mitte sind somit längst zersiedelt; schleichend entsteht hier eine suburbane Kultur. Hat bald jedes Dorf seine Suburbs? Und ist Amsterdam nicht längst schon Appendix seiner Vorstädte? Koolhaas polemisiert gegen den vorgeblichen Schutz des grünen Herzens, wo sich das künstlichste Land der Welt um „Natur“ – sprich Gewächshäuser, Felder, Kanäle – sorgt. Sein Masterplan ist die Rekonfiguration der holländischen Bevölkerung zu einer „Puntstad“ im Zentrum des bisherigen urbanen Rings oder zu einer „Zuidstad“, welche sich an der europäischen Wirtschaftsentwicklung weiter im Süden orientiert. Der Rest könnte dann verwildern.

Koolhaas illustriert seine Konzepte mit der maßstabgerechten Montage des Berliner S-Bahn- Netzes, welches die Puntstad versorgen könnte und an ihren Rändern – als „touristische Juwelen“ – die historischen Innenstädte zum Ausflugsziel umwidmet. Die Zuidstad orientiert sich an Lille, dem zukünftigen Knotenpunkt der europäischen Schnellbahnen. Alexanderpolder würde Teil der durch Pendelverkehr mit TGV entstehenden virtuellen community, die an solchen Kreuzungspunkten zusammenläuft und zu neuen Gewerbeballungen führen wird. Der Süden Hollands wäre nahe genug, um mit 250 Stundenkilometern täglich dorthin zur Arbeit zu fahren. Hierzu müßte eine Verdichtung des Städtebaus an der Grenze zu Belgien erfolgen.

Schwimmende Städte in der Nachbarschaft

„Fuzzy Urbanism“ nennen die Berliner Architekten Klaus Zillich und Wolfgang Engel ihr Entwicklungskonzept. Da die niederländische Regierung 1992 sich zum einen dafür entschied, zehn Prozent der entwässerten Polder wieder in Seen und Marschland zurückzuverwandeln, andererseits aber eine Million neue Wohnungen für die nächsten 20 Jahre fordert, soll sich die Stadt in Form schwimmender Inseln aufs Wasser begeben. Je nach Lärmentwicklung oder bevorzugter Nachbarschaftsbildung ist diese mobile Stadt in ihren Bestandteilen verschiebbar.

Angesichts stürmischer Baukonzepte der Architekten blieben die Präsentationen der Künstler bescheiden. Ihre Aufgabe war es laut Katalog, das „soziale Environment der neuen urbanen Gebiete von Rotterdam zu registrieren und zu interpretieren“. Hans Aarsman suchte die Flucht in den konzeptuellen Ansatz, den s'-Gravenweg mit 200 Fotos in regelmäßigen Abständen als Zehn-Meter-Panoramablick zu dokumentieren. Doch schon nach zehn Bildern und der Begegnung mit fünfzehn anderen Auftragsfotografen gab er das Vorhaben auf. Seine fahlfarbigen Exponate, die er – nunmehr konzeptionslos – entwickelte, erschienen zudem menschenleer, weil die Passanten ganz und gar nicht in die abgebildete urbane Landschaft hineinpassen wollten. Der Fotograf Jean Louis Schoelkopf hielt dagegen sein Konzept der Sequenzen und Raster mit Studien am seriellen Baustil aufrecht.

Korrie Besems bedruckte sechzig T-Shirts mit Motiven der Neubausiedlungen und hängte diese in der Kunsthal auf. Die Träger blieben sowohl auf den Bildern als auch in der Ausstellung abwesend. Nick Waplington zeigt anläßlich des Symposiums Hochzeitsdias seiner Freunde aus Nottingham. Bei den Aufnahmen im Alexanderpolder fühlte er sich jedoch als Fremder, der weniger Menschen als Räume vorfand. Seine zehn jeweils dreigeteilten Bilder zeigen oben stets eine fahle, an Boltanskis Leuchtkörper erinnernde Peitschenlampe, in der Mitte weitwinkelige und durchs spiegelnde Fenster aufgenommene Wohnzimmer und unten aus der Froschperspektive fotografierte Container und Baumaterial wie etwa eine Aufstellung von Fassadenplatten. Manfred Willmann wiederum kurvte mit einem Mercedes durchs Viertel, drückte auf den Auslöser seiner am Armaturenbrett befestigten Kamera und fand – wen wundert's – kaum etwas Besonderes.

Paul Hellmann, Mitarbeiter einer Tageszeitung, lebt als einziger der Diskussionsteilnehmer auch dort draußen. 1968 als einer der ersten Siedler in den Vorort verschlagen, spürte er in einer Artikelserie den Alexanderpolder-Pionieren nach, die trotz jahrelangen Blicks auf Baucontainer, Planken statt Fußwegen und Sandverwehungen sich dort wohlfühlen. Entgegen landläufiger Meinung vermißten die Leute nichts; vielmehr fürchteten sie Veränderungen. Die Bewohner verstehen ihr Exil als Schutzburg gegen Ausländer – (hohe Mieten) und Kriminalität (steter Balkonblick aufs eigene Auto). Eine Untersuchung des Terrains als bevorzugtes Rückzugsgebiet rassistischer „Bleichgesichter“ steht allerdings noch aus. Kaum wurde über soziale Folgen der außerstädtischen Seggregation gesprochen, brachen die Veranstalter eine sich anbahnende Publikumsdiskussion ab.

Jef Geys entwickelte am Rande des AIR-Alexanderpolder und auf Einladung des Kunstraums Witte de With eine Reality-Familienserie. Diese übermittelte mit einer statischen Kamera das abendliche Essen von insgesamt neun Familien. Zwischen 18.40 und 19.00 Uhr konnte man statt den Simpsons oder den Bundys aus „Eine schrecklich nette Familie“ nun den Suburb-Bewohnern im Alexanderpolder via Offener Kanal in die Suppenschüssel schauen. Die auf Kindermöbeln im Witte de With präsentierten Aufzeichnungen von „What are we having for dinner tonight?“ zeigen meist festlich angezogene Menschen, die ihre mit Kerzen bestückte Tischrunde zur Kamera und somit zu den Zuschauern hin geöffnet halten: Selbstinszenierung der per Kabelfernsehen miteinander verbundenen Vorstädter. Weiterhin befindet sich im Ausstellungsraum eine Redaktionsstube für insgesamt drei Ausgaben des kostenlosen Kempens Informatieblad. Seit Jahren ist Geys Herausgeber dieser mit Ausstellungstexten, Kreuzworträtseln, Rezepten und Werbung gefüllten Anzeigenblätter; auch dies ein typisches Kommunikationsmedium der Suburbs.

Ebenfalls auf Betreiben des Witte de With soll nun das lange geplante Gemeinschaftsprojekt von Jeff Wall und Dan Graham im Norden des Planungsgebietes realisiert werden. Modelle, Skizzen, Unterlagen und Fotos hierzu präsentierte das Museum Boymans- Van Beuningen in einem kleinen Kabinett.

Der „Children's Pavilion“ ist eine fast ganz in die Erde vergrabene Kuppelhalle, in die als Bullaugen rückseitig beleuchtete Kinderfotos installiert sind. Der neben dem Spielplatz im Ommoordse Veld geplante Bau orientiert sich an klassischen Bauten (Amphitheater, Kirchenfenster, La Geode), während die in den Entwurf hineinskizzierten Kinder etwas ratlos wirken: Was werden sie mit diesem Pavillon anfangen, wo doch draußen Matsch und Baumaterial zum Spielen einladen?

AIR-Alexander befragte die Künste als Erkunder der schon existierenden Vorstadt. Doch wie werden diese auf die zukünftige Situation abseits der Zentren und ihren klassischen Ausstellungshallen reagieren? Jey Geys' Kabel-TV- Programm oder die Verteilung von Anzeigenblättern, das Hinaustragen der bedruckten T-Shirts von Korrie Besems und der geplante Kinderpavillon sind Prototypen einer suburbanen Kunstpräsentation.

Mit der kürzlich vollzogenen Eröffnung des Niederländischen Architekturinstituts am Museumspark – hier liegt auch das Museum Boymans-Van Beunigen und die extravagante Kunsthal von Rem Koolhaas – geht die Ära der innerstädtischen Museumsufer, -viertel und -parks ihrem Ende entgegen. In Zukunft wird die Suburbanisation – sollte sie weiter fortschreiten – neue Vermittlungsformen einfordern. Dies könnte sich in einem veränderten Konzept der „Kunst im öffentlichen Raum“ niederschlagen – durch per Kabel distribuierte Medien oder mit Hilfe eines Verbunds verstreuter und temporärer Multifunktionsbauten.

T-Shirt-Kunst und Kabelfernsehen

Über die Folgeschäden der Suburbanisation sah man bei AIR-Alexander übrigens nichts. So fehlten praktikable Alternativen zur unaufhaltsam scheinenden Suburbanisation – etwa ein Konzept zur Verdichtung auf dem angestammten städtischen Terrain, welche die immer weiter sich fortsetzende Zersiedlung und Verstädterung umkehrt. Die soziale Entkoppelung individualisierter Personen und die gesellschaftliche Entmischung in funktionale Zonen wurde beschwichtigt: Man sei doch mobil und könne dorthin fahren, wo andere sich aufhalten.

Jeff Wall/Dan Graham, Children's Pavilion im Museum Boymans- Van Beuningen noch bis zum 2. Januar 1994. Der umfassende niederländisch/englische Katalog „Alexanderpolder“ kostet 59,50 Gulden.