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„Ihr seid gefährlicher als Terroristen“

Seit den landesweiten Razzien gegen die türkische Oppositionszeitung „Özgür Gündem“ sind sechs Mitarbeiter spurlos verschwunden / Die Polizei gibt sich völlig ahnungslos  ■ Aus Diyarbakir Corry Guttstadt

„Sie hassen uns“, sagt Redakteurin Nalan und zeigt auf die zerstörten Fotografien ihrer Kollegen. Die Rahmen sind zerbrochen, auf den Fotos wurde herumgetrampelt. Die abgebildeten Mitarbeiter der türkischen Tageszeitung Özgür Gündem wurden erschossen, weil jemandem im türkischen Staatsapparat ihre Arbeit nicht paßte.

Von sechs weiteren Kollegen fehlt seit zehn Tagen jede Spur. Nach den landesweiten Polizeirazzien in der Türkei gegen die oppositionelle Tageszeitung sind die Mitglieder der Redaktion in der kurdischen Stadt Diyarbakir noch immer verschwunden. Bis zum Freitag wurden die Redaktionsräume von schwerbewaffneten Zivilpolizisten besetzt, den ausländischen Journalisten der Zutritt zum Gebäude von der Polizei handgreiflich verwehrt. „Die Besitzer sind aus unerklärlichen Gründen verschwunden. Wir bewachen die Räume vor möglichen Einbrechern“, heißt die Erklärung.

Mit verhörartigen Gegenfragen werden alle Vermutungen der Journalisten über Hintergründe der Polizeiaktion abgewehrt: „In der Türkei stellen wir die Fragen, und die Journalisten antworten“, erläutert ein Polizist mit Kalaschnikow im Anschlag. Nachdem die Zentralredaktion in Istanbul am vorvergangenen Montag die Arbeit wieder aufgenommen hatte, erwirkten die in Freiheit befindlichen Mitarbeiter des Büros aus Diyarbakir auch eine richterliche Genehmigung zur Wiedereröffnung ihres Büros. Doch in Türkisch- Kurdistan ist die Antiterrorabteilung der Polizei offensichtlich das höchste Staatsorgan: Selbst dem Richter, der gekommen war, um der Öffnung des Büros beizuwohnen, wurde von der Polizei der Zutritt verweigert!

Erst Freitag nacht verließ die Polizei die Redaktionsräume, die sie innerhalb einer Woche nach Kräften verwüstet hatte: Schubladen wurden herausgerissen, der Inhalt auf dem Boden verstreut, Schränke und Regale leergeräumt, das Archiv, Fotos sowie sämtliche Recherchematerialien fehlen. Adreßbücher, Kameras, Schreibmaschinen und der Computer ebenfalls weggeschleppt, das Fotolabor zerstört, teures Filmmaterial belichtet. Die nahegelegene Vertriebsstelle, von wo aus auch die Verteilung anderer oppositioneller Zeitungen abgewickelt wird, gleicht einem Schlachtfeld, die Kasse wurde aufgebrochen, Geld und Abrechnungslisten entwendet.

„Ihr seid noch gefährlicher als die Terroristen auf den Bergen“, sagten die Polizisten über die Zeitungsmitarbeiter. Bei zwei Durchsuchungen am Donnerstag hatten sie nichts finden können, was für die beabsichtigte Konstruktion einer Verbindung zwischen der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) und Özgür Gündem zu verwerten ist.

Nalan, die von der Polizei am Sonnabend zur dritten Durchsuchung des Büros geholt wurde, berichtet von „dümmlich provozierenden Beweisen“, mit denen eine Verbindung zwischen der Zeitung und der ERNK, der bewaffneten Organisation der PKK, belegt werden solle: „Gleich auf dem ersten Tisch am Eingang lag ein Stapel Flugblätter der ERNK, fein ordentlich abgelegt, während das ganze Büro auf den Kopf gestellt war. Aus meinen Schreibtischschubladen holten sie weitere Flugblätter, einen Quittungsblock und eine Fahne der ERNK.“

Trotz aller Drohungen und Schwierigkeiten sind die MitarbeiterInnen fest entschlossen, weiterzumachen. Innerhalb weniger Stunden ist das Büro halbwegs hergerichtet. Da alle Maschinen fehlen, müssen die Artikel mit der Hand geschrieben werden. „Wir haben heute schon zwei Artikel nach Istanbul gefaxt“, berichtet der vorübergehende Redaktionschef Salik stolz. Schließlich seien „alle unsere erfahrenen Kollegen, die das Büro hier betrieben haben, noch in Polizeihaft“.

Nach dem Antiterrorgesetz haben Festgenommene während der ersten 14 Tage keine Möglichkeit, Kontakt mit einem Rechtsanwalt oder Verwandten aufzunehmen. Angehörige, die dennoch wagten, auf dem Polizeirevier nach den Verhafteten zu fragen, wurden dort stundenlang festgehalten, geschlagen und, wie ein 13jähriges Kind, sogar mit Elektroschocks bedroht. „Ich weiß, sie foltern ihn, aus dem Ausland sollen sie Druck machen“, weint die Mutter von Hasan Özgün, dem Leiter des Diyabakir-Büros von Özgür Gündem. Mit ihm wurden in Diyarbakir am 9. Dezember festgenommen: M. Siraç Koç, Mehmetșah Yildiz, Necmiye Aslanogh, Botan Önen und Nuray Tekdag. Auch die Rechtsanwältin Arzu Șahin, die für die Zeitung in Istanbul als Justitiarin arbeitete, wird seit einer Woche dort festgehalten.

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