: Vom Misthaufen zum Königsschloß
Eine Ausstellung in Wuppertal räumt mit Legenden um Paula Becker und Otto Modersohn auf ■ Von Stefan Koldehoff
Die Rollen schienen fest verteilt: Er war der gefeierte Aussteiger mit dem roten Spitzbart, den es 1889 aus der Großstadt Karlsruhe in die Einsamkeit des Bremer Teufelsmoores zog, wo er sich ganz der stimmungsvoll verdichtenden Landschaftsmalerei hingab. Sie galt als seine elf Jahre jüngere Schülerin, die sich schließlich sogar räumlich von ihrem Lehrer distanzierte, um in der Silvesternacht der Jahrhundertwende allein nach Paris zu reisen, Rilke zu treffen und Cézanne zu bewundern. Die Bücher über Paula Becker und Otto Modersohn, in denen bis heute das Klischee vom kulturanarchistischen Mann und seinem emanzipierten Weiblein gepflegt wird, füllen mehrere Regalmeter. Umfassende Ausstellungen haben ihr Werk zwar akribisch untersucht – bislang allerdings fast ausschließlich voneinander getrennt.
Daß es seit 1961 keine Ausstellung mehr gab, in der das Oeuvre des längst zur romantischen Legende verklärten Worpsweder Malerpaares komparativ gegenübergestellt werden konnte, lag nicht an fehlendem Interesse der Fachwelt. Das Israel Museum in Jerusalem hatte sich um eine gemeinsame Werkschau ebenso bemüht wie Kunsthäuser in Bremen und München. Das tatsächliche Zustandekommen des auch in Wuppertal konzipierten Projekts verhinderten aber letztlich immer wieder die Nachkommen des Ehepaares. Streitigkeiten zwischen der heute 86jährigen, in Bremen lebenden gemeinsamen Tochter Mathilde und der Bremer Paula- Modersohn-Becker-Stiftung sowie den Kindern aus Otto Modersohns dritter Ehe gaben den Anlaß. Inhaltlich ging es vor allem um zweifelhafte Zuschreibungen.
Bei der noch andauernden Aufarbeitung des umfangreichen Oeuvres beider Maler fielen Bilder auf, die Paula Becker zugerechnet werden, tatsächlich aber auch aus der Hand von Otto Modersohn stammen könnten. Erst kürzlich geriet deshalb auch ein der Frau zugeschriebenes „Stilleben mit Birken und Heuschober“ aus dem Besitz des Kölner Wallraf-Richartz-Museums in die Diskussion. Doch in der kunsthistorischen Auseinandersetzung geht es nicht nur um Ruhm und Ehre und die geplante Veröffentlichung neuer Werkverzeichnisse, der kleine Unterschied zwischen Mann und Frau schlägt sich auch in klingender Münze für die Besitzer nieder. Während Gemälde von Otto Modersohn um 50.000 Mark kosten, müssen Sammler für Werke seiner Frau, die nur selten in den internationalen Auktionen angeboten werden, das Dreifache aufbringen.
Die zänkisch geführte Debatte um die Zuschreibung macht deutlich, wie symbiotisch das Künstlerpaar nicht erst seit seiner Hochzeit im Mai 1901 formal zusammengearbeitet hat. Schon im Oktober 1901 schrieb Paula Becker an ihre Tante Marie Hill: „In der Kunst verstehen wir uns sehr gut, der eine sagt meist, was der andere empfindet.“ Beide suchten durch Einfachheit von Form und Farbe künstlerische Größe zu finden – Paula Becker vor allem in Bildnissen und Stilleben, ihr Mann in jenen vor Ort entstandenen Landschaftsbildern, die durch ihre unprätentiöse Verdichtung des Gesehenen mehr als nur platte Stimmungsberichte sind. Die Wuppertaler Ausstellung zeigt mit dem „Durchblick in der Worpsweder Wohnung“ von 1902 auch eines von nur zwei bekannten Interieurs Modersohns. Formal an den niederländischen Meistern orientiert, ist diese symmetrisch geordnete Asymmetrie beredtes Dokument des gemeinsamen Lebens und Arbeitens.
Gemeinsame Arbeiten sind jedoch nicht zahlreich. Die Wuppertaler Ausstellung zeigt ein sowohl mit „OM“ als auch mit „PMB“ signiertes Mädchenportrait, das dem Museum aus Anlaß der Ausstellung als Dauerleihgabe aus Privatbesitz zur Verfügung gestellt wurde. Die Darstellung bleibt merkwürdig blaß und unkonkret. Ähnlich fallen die Menschendarstellungen in den meisten Bildern Otto Modersohns aus. Wie bei „Elsbeth im Garten“ (1903) sind sie nur dekorativer Bestandteil der Landschaft ohne eigenständigen Charakter.
In der Wuppertaler Ausstellung, die die 20 Werke Paula Beckers aus eigener Sammlung etwa gleich vielen Gemälden ihres Mannes gegenüberstellt, wird dennoch deutlich, zu welchen inhaltlich sehr unterschiedlichen Ergebnissen beide trotzdem kommen mußten. Paula Becker durchdringt ihre Bildthemen, bringt nur noch deren Essenz auf die Leinwand und nimmt vor allem in ihren psychologischen Menschendarstellungen Entwicklungen vorweg, die später die norddeutschen Expressionisten wieder aufgreifen werden. Vor allem aber führt die vergleichende Werkschau sehr klar vor Augen, wie schnell die elf Jahre jüngere Frau das ästhetische Niveau ihres akademiegeschulten und mehrfach ausgezeichneten Mannes erreichte und schließlich sogar hinter sich ließ.
„Wie ich ihr von dem Intimen geben kann – so sie mir vom Großen, Freien, Lapidaren“, notiert Modersohn am 15.Juni 1902 in sein Tagebuch, um drei Wochen später beinahe überrascht festzuhalten: „So malte ich meine alten Studien, so arbeitet jetzt Paula und regt mich mächtig an. [...] Ob Misthaufen oder Königsschloß, Mistforke oder Zepter – nur wie man es sieht und fühlt und macht – entscheidet. [...] Seit ich so empfinde (nach Paulas Studien), fühle ich überall Harmonien, Klänge, nichts Einzelnes – Gemeinsames, Verbundenes: Luft, Licht, die großen Einiger.“
Harmonisch wie das gemeinsame Arbeiten verlief das Eheleben nicht immer. Aus den Tagebüchern und Briefen des Paares geht hervor, daß es um einzelne Bilder, aber auch um die von Paula Becker durch ihre Paris-Reisen gewollte Trennung durchaus heftige Debatten gab. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg behauptete der befreundete Bildhauer und Architekt Bernhard Hoetger gar, bei der Herausgabe der Briefe und Tagebücher Paula Beckers seien bewußt jene Texte verfälscht oder ausgelassen worden, in denen sich die Malerin wenig freundlich über die Partnerschaft mit ihrem Mann äußere. Hoetger unterlag mit dieser Behauptung allerdings später vor Gericht.
In den zur Wuppertaler Ausstellung zusammengestellten Texten erfährt auch das von der feministischen Kunstwissenschaft sorgsam gepflegte Modersohn-Becker- Bild erhebliche Korrekturen. An der auf gegenseitiger Toleranz, Freiheit und Liebe gründenden Ehe war ihr offenbar nicht in erster Linie aus sozial emanzipatorischen Gründen gelegen, sondern wegen der beruflichen Fortbildung, was sich vor allem in der Trennung während ihres zeitweiligen Aufenthalts in der Kunsthauptstadt Paris zeigte. Sie wolle dort „nicht frei arbeiten, sondern schularbeiten“, teilt sie nach Hause mit. Tatsächlich hing die 29jährige in Paris der Ruhe und Idylle, vor allem aber der Fürsorge ihres Mannes nach. „Ich bin Dein, Du bist mein, des sollst Du gewiß sein“, schreibt sie ihrem Mann 1905 in schönster Schulmädchenlyrik aus Frankreich. „Nimm alle Freiheiten, reife, lebe von mir getrennt, mal', tue alles, was Deiner Natur nötig ist“, forderte dieser sie nach der Überwindung heftiger innerer Widerstände dennoch im März 1906 großzügig auf. Trotzdem gesteht die Malerin ihrer Freundin wenige Monate später: „Ich habe diesen Sommer gemerkt, daß ich nicht die Frau bin, alleine zu stehen.“ Im März 1907 kehrt Paula Becker zu ihrem Mann Otto Modersohn nach Worpswede zurück. Dort kommt am 2.November die Tochter Mathilde zur Welt, 18 Tage später stirbt die junge Mutter im noch freudig geschmückten Haus an einer Embolie.
Daß die wichtige Ausstellung kein Katalog dokumentiert – die Stadt Wuppertal mochte dafür als Trägerin des Museums kein Geld aufbringen –, ist ein Manko, die wenig intime Hängung an den vier Wänden eines einzigen großen Saales ein anderes. Ohnehin ist aber geplant, nachdem nun die wesentlichen Familienzwistigkeiten beigelegt scheinen, der relativ kleinen Wuppertaler Studio-Ausstellung eine umfassendere über das gemeinsame Leben von Paula Becker und Otto Modersohn folgen zu lassen.
„Otto Modersohn – Paula Modersohn-Becker – Gemälde“. Von- der-Heydt-Museum, Wuppertal. Noch bis zum 6.Januar 1994.
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