Landbesitzer mit Mindestlohn

Die russische Landreform begann in Nischni Nowgorod. Aber die neuen Privatbauern wissen oft nicht, was sie mit ihrem Eigentum an den ehemaligen Staatsfarmen anfangen sollen  ■ Aus Nischni Nowgorod Donata Riedel

In der Zentralen Verwaltungsstelle warten die Landarbeiter der Sowchose Prawdinskaja auf ihren Lohn. Frauen und Männer aller Altersklassen, in dicke Wintermäntel verpackt, begleitet von kleinen Kindern und zahlreichen Hunden, füllen das Erdgeschoß des grauen Plattenbaus. Die Zeit des Schlangestehens soll für sie bald vorbei sein: Die Wartenden sind ausersehen, als erste in Rußland von staatlichen Landarbeitern zu grundbesitzenden Privatbauern zu werden.

„Wir hoffen, danach Geld zu verdienen“, begründet Sowchose- Direktor Walerij Schatow in seinem Büro in der ersten Etage, warum er, mit Unterstützung der Weltbank-Tochter International Finance Corporation (IFC), die einstige Staatsfarm zu Rußlands Pilotfarm gemacht hat. Die Bilanz, so der rund Fünfzigjährige, sei jetzt „ungefähr bei Null“, die Wartenden müßten sich darum mit dem Mindestlohn zufriedengeben.

Aus der Schlange im Erdgeschoß schwankt ein betrunkener alter Mann auf Dunkan Robinson zu, den US-amerikanischen IFC- Berater für Prawdinskaja: „Wir brauchen wieder mehr Kommunismus hier, mehr Kommunismus, nicht weniger.“ Robinsons Argumente, daß auf dem Lande doch noch alles beim alten sei, daß es ja gerade darum gehe, allen 723 Bewohnern der Sowchose Möglichkeiten zum Geldverdienen erstmals zu eröffnen, perlen an dem Mann ab. „Manchmal“, sagt Robinson beim Rundgang durch das größte der 23 Sowchose-Dörfer, „manchmal frage ich mich, warum wir das hier überhaupt machen.“

„Das hier“ begann vor zwei Jahren. Als die russische Regierung den Beginn der Wirtschaftsreformen für Anfang 1992 ankündigte, warb der Gouverneur des Gebietes Nischni Nowgorod, in dem auch die Staatsfarm Prawdinskaja liegt, die IFC als Privatisierungsbegleiterin an. Deren russischsprechende US-Berater begannen zunächst in der 1,5 Millionen Einwohner zählenden „Unteren Neustadt“ an der Wolga, die zu Sowjetzeiten „Gorki“ hieß, die Geschäfte und Gaststätten auf Voucher- Auktionen an die Belegschaft zu versteigern. Erstmals in Rußland wurde dort ein Transportmonopolunternehmen entflochten, das Lastwagen an Privatunternehmer verkauft.

Auch die Privatisierungsmodelle, nach denen heute in ganz Rußland die Industriebetriebe in Aktiengesellschaften umgewandelt und zunächst ins Mehrheitseigentum der Belegschaften überführt werden, sind in Nischnis Kreml, der backsteinernen Stadtfestung aus dem 16. Jahrhundert hoch über der Wolga, erdacht worden. Und lange bevor Jelzin im November per Dekret das Privateigentum an Grund und Boden einführte, begannen hier, 410 Kilometer in nordöstlicher Richtung von Moskau entfernt, die Vorarbeiten für die Landreform. Neben der gleichnamigen Stadt gehören zum Gebiet Nischni Nowgorod, dessen Fläche größer ist als Belgien und Holland zusammen, 69 Industriesiedlungen, 25 Städte und 4.600 Dörfer mit weiteren 2,2 Millionen Einwohnern. 23 Prozent der Bevölkerung leben auf dem Land.

Die Sowchose Prawdinskaja, 60 Kilometer wolgaaufwärts von Nischni gelegen, und fünf weitere typische Großfarmen wurden für das Pilotprojekt ausgewählt. Wirtschaftlich stehen sie alle vergleichsweise gut da. Die Mindestlöhne werden auf Prawdinskaja immerhin regelmäßig ausgezahlt. Die Erntemaschinen und Traktoren wirken gut instand gesetzt. Die traditionellen bunten Holzhäuser, die in Prawdinskajas 23 Dörfern überwiegen, sind frisch gestrichen. In den Ställen wird regelmäßig ausgemistet, die schwarzbunten Kühe kauen rote Rüben, Silage und Heu.

„Wir hatten erwartet, daß vielleicht zwei Farmen den ganzen Prozeß durchhalten“, erzählt Dunkan Robinson. „Erstaunlicherweise hat aber keiner der Direktoren aufgegeben, so daß wir jetzt viel mehr Arbeit haben, als wir eigentlich wollten.“ Den Durchhaltewillen des Direktors teilen auf Prawdinskaja jedoch nur die Jüngeren, wie Lena Schytalina, die als Verbindungsfrau zwischen der Farm und der IFC fungiert. „Die alten Leute verstehen oft gar nicht, was sie mit ihren Eigentumsurkunden anfangen sollen“, stellt sie fest. Fast die Hälfte der Bewohner Prawdinskajas sind Pensionäre, und Lena Schytalina ist die meiste Zeit damit beschäftigt, das komplizierte Landreformmodell wieder und wieder zu erklären.

Die 3.616 Hektar Ackerland Prawdinskajas wurden in 150 Hektar große zusammenhängende Stücke aufgeteilt, das Land wurde nach Fruchtbarkeit bewertet, und dann wurden Anteilsscheine unter die Landarbeiter, ihre Kinder und die Pensionäre verteilt. Ebenso wurden die Maschinen, das Vieh (2.357 Kühe) und die Ställe bewertet und Zertifikate ausgegeben. Nach Informationsveranstaltungen und mehreren Auktionsverfahren haben die Farmbewohner ihre Anteilsscheine zu funktionsfähigen Landwirtschaftsbetrieben zusammengelegt: 13 neue Gesellschaften sind so entstanden, wovon allerdings nur eine ein Familienbetrieb ist und eine zweite eine kleine Imkerei.

Die anderen Bauern entschieden sich dafür, Genossenschaften zu bilden, „Mini-Kolchosen“, die sich zumeist spezialisieren: auf Gemüseanbau, auf Viehzucht oder Getreide. Wiederum andere betreiben den Maschinenpark als Servicestation für die anderen Genossenschaften.

Die größte und reichste Genossenschaft hat sich um Direktor Schatow gebildet. Nicht alles, so munkeln manche, soll dabei so demokratisch und fair verlaufen sein, wie es das IFC-Modell vorsieht. Alte Frauen sollen von Schatows Leuten übers Ohr gehauen worden sein, indem man ihnen ihre Anteilsscheine gegen Übernahme der Begräbniskosten abgeschwatzt hat. In einem anderen Fall soll einer Alten lebenslange Versorgung zum Selbstkostenpreis versprochen worden sein – doch der liegt derzeit über den Preisen des Dorfladens.

Und beim Imker brannten kürzlich die Bienenkörbe ab. Brandstiftung, sagt der verhinderte Bienenzüchter. „Wer weiß schon, ob das stimmt“, zweifelt Robinson. „Vielleicht war er's ja selber, als er mal wieder zuviel getrunken hat.“

Robinsons Chef Roger Gale findet das Knirschen im Landprivatisierungsprozeß halb so wild. „Wenn wir erst mal den richtigen Informationsweg gefunden haben und wenn die ersten ein bis zwei Farmen tatsächlich in privater Hand sind, dann werden die Gerüchte schlagartig aufhören“, meint er. Mißtrauen in der Anfangsphase, Proteste und sogar Streiks habe es schließlich auch bei der Privatisierung des Handels in der Stadt Nischni Nowgorod gegeben.

Heute feiert der 34jährige Gouverneur Boris Nemzow, der seine ersten politischen Erfahrungen beim erfolgreichen Kampf gegen ein atomares Fernheizkraftwerk mitten in der Stadt sammelte, die kleine Privatisierung als großen Erfolg. Das Warenangebot in Rußlands drittgrößter Stadt kann sich durchaus mit dem Moskaus messen. Die Pokrowka-Straße, eine Fußgängerzone zwischen alten Jugendstilhäusern, erinnert mit Geschäften, Restaurants und Cafés sogar schon wieder daran, daß sie vor 100 Jahren die elegante Flaniermeile der damals berühmten Handels- und Messestadt Nischni war.

Daß ausgerechnet Nischni Nowgorod, das bis Mitte 1991 für Ausländer geschlossene militärische Sperrgebiet, zum Vorreiter in Sachen Wirtschaftsreformen geworden ist, liegt an der vergleichsweise günstigen politischen Situation. Das Gebietsparlament und der Bürgermeister Nischnis arbeiten hier nicht gegen den von Jelzin eingesetzten Gouverneur, sondern ziehen mit ihm am gleichen Strang. Die Verwerfungen des Transformationsprozesses sind dennoch in auch dieser Provinz des Fortschritts spürbar. Die hohe Inflationsrate läßt in Nischni die Preise in die Höhe schießen. Und die zahlreichen Rüstungsbetriebe, ein Drittel der Nischni Nowgoroder Industrie, leiden heftig darunter, daß ihnen, wie überall in Rußland, 80 Prozent der Regierungsaufträge Anfang 1992 übergangslos gestrichen wurden.

So liegen jetzt im Hafen der Schiffsbauwerft „Rotes Sormowo“, die 25.000 Menschen beschäftigt und für die im Winter in der Wolga eine Fahrrinne mit Eisbrechern freigehalten wird, zwei nagelneue U-Boote herum, eines mit Atomantrieb, das zweite mit Dieselaggregat. Die russische Regierung hatte für sie zwar noch den Auftrag erteilt, zahlt nun aber den vereinbarten Preis von drei Milliarden Rubel nicht.

Die Unzufriedenheiten spiegeln sich darum auch im Wahlergebnis von Nischni. Die Partei des Faschisten Schirinowski gewann mehr Stimmen als die Demokraten. Dennoch – eines der Paradoxa der russischen Übergangszeit – erreichte Gouverneur Nemzow sein Direktmandat für die Staatsduma.

Der größte Bremser aber in der Reformmodellstadt ist das Automobilkombinat GAS, in dem die Wolga-Limousinen, Lastwagen, Kleintransporter und Panzer hergestellt werden. Einer der legendären Weltkrieg-II-Tanks aus den GAS-Hallen, der T-34, steht als Ausstellungsstück innerhalb der Kremlmauern und erinnert die Reformer beständig an die Macht des „Staates im Staate“, wie Igor Makajew, Direktor der Abteilung für internationale Beziehungen, den Giganten nennt. Das Werkstor des Kombinats, in dem einschließlich Tochterfirmen 150.000 Menschen arbeiten, bleibt nicht nur für ausländische Journalisten, sondern auch für den Gouverneur fest verschlossen. Der Direktor erreichte sogar bei Jelzin die Zusage, von der Entmonopolisierung verschont zu bleiben.

Trotzdem sprechen sich die ungelösten Probleme des GAS-Direktors natürlich bis zur Verwaltung herum: Massenweise stehen Wolga-Limousinen auf dem Werksgelände, die unverkäuflich sind, weil das Werk für sie genausoviel verlangt wie für einen neuen VW Golf. Die Arbeiter dürfen darum nur noch wenige Stunden in der Woche arbeiten, damit die Halde nicht weiterwächst.

Angst vor Arbeitslosigkeit plagt die Beschäftigten gerade in den größten Industriebranchen Nischni Nowgorods, Maschinenbau, Metallverarbeitung, Chemie, Holzverarbeitung und Papierindustrie, auf die 1991 zwei Drittel der gesamten Wertschöpfung in der Industrie entfielen.

Besser, so meint der deutsche Berater Ulrich Schmidt von der West-LB-Tochter Deutsche Industrie Consult (DIC), sieht es in der konsumnahen Industrie der Region aus. Das Textilkombinat Majak beispielsweise hat noch kurz vor dem Ende der Sowjetunion einen neuen Maschinenpark bekommen, auf dem jetzt der Bochumer Unternehmer Steilmann Kleidung billig nähen läßt.

Nachdem sich die Deutsche und die Dresdner Bank bereits in Moskau und St. Petersburg etabliert haben, versucht die drittgrößte Bank der Bundesrepublik nun, über Nischni Nowgorod den neuen russischen Markt zu erschließen. Nach einer Kurzstudie besuchen nun sechs DIC-Berater die wichtigsten Betriebe der Region, um sie anschließend potentiellen West- Investoren in einem Branchenbuch vorzustellen.

Bei seinen Recherchen stellt Ulrich Schmidt gelgentlich fest, daß Erfolg häufig noch immer eher eine Macht- als eine Marktfrage ist. Wie bei der Möbelfabrik in der kleinen Industriestadt Bor. Deren Direktor Iwan Lewtschenko erzählt in seinem nach Lack riechenden Büro eine reine Erfolgsstory. Die Umsätze mit den Büro- und Schlafzimmermöbeln seien um 140 Prozent gestiegen, er mache dabei 22 Prozent Gewinn und wolle im Frühjahr eine neue Produktionshalle für Polstermöbel in Betrieb nehmen. Wie er das schafft? „Alle anderen Möbelfabriken hier sind von mir abhängig“, sagt Lewtschenko. „Wenn ich will, kann ich sie alle in die Pleite treiben.“