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„Kinder stören in dieser Welt“

■ Betr.: „Was sind dieser Gesell schaft wirklich die Kinder wert?“ taz vom 11.12.93

[...] Auf ein wesentliches Element der Kritik weist Herr Kahl mit Recht hin, indem er fragt: „Was sind dieser Gesellschaft wirklich die Kinder wert?“ [...]

Die vornehmste Aufgabe unserer Zivilisation ist es, die Produktion von Dingen zu perfektionieren. Noch sind unsere Infrastruktur und unser gesellschaftliches Leben ganz auf die Bedürfnisse des dynamischen, omnipotenten, erfolgreichen jungen Mannes ausgerichtet, der sich durch ein rigides Arbeitsethos grenzenlos selbst ausbeutet, seine Mit- und Umwelt bedenkenlos funktionalisiert und verwertet, seine Beziehungswünsche auf eine austauschbare Partnerin projiziert, seine Ohnmacht an soziale Dienste delegiert, seine innere Leere durch Konsum kompensiert und seine Beziehungsstörung durch immer stärkere und immer neue Reize ausagiert. Kinder stören in dieser Welt. Auf ihre spezifischen Bedürfnisse wird wenig Rücksicht genommen, ihre Zukunft ohne Bedenken vergeudet. Wo soll ein Kind, das so wenig in seiner Eigenart Beachtung fand und dem so wenig Raum für Hoffnung in der Zukunft gelassen wird, die Maßstäbe hernehmen für ein Leben mit mehr Lebensqualität?

[...] Kern der Erziehung ist der Erwerb der Beziehungsfähigkeit. Beziehung entwickelt sich jedoch nur in konkretem Miteinander. Für Säuglinge und Kleinkinder ist der nonverbale Teil dieses Miteinanders die einzige Form, für ältere Kinder der entscheidende Faktor der Kommunikation. Die Übermittlung von abstrakten Begriffsinhalten, wie Wertvorstellungen, tritt demgegenüber ganz in den Hintergrund. Glaubwürdig ist nur die Aussage, die stimmig zur ganzheitlich erlebten und begriffenen Situation und zur Gesamtpersönlichkeit paßt. Eine Wertediskussion ohne die Berücksichtigung dieses Hintergrundes bleibt im Unverbindlichen stecken.

Wie steht es aber um die Pflege der nonverbalen Kommunikation in Deutschland? Ist es ein Zufall, daß in dem Aufruf Worte wie Würde des Kindes, gegenseitige Anerkennung, Mitgefühl, Hoffnung, Freude, Lust und Fantasie fehlen? Noch kann man in unserer Gesellschaft die Meinung vertreten: Wenn Kinder weinen, ist dies natürlich; wenn Frauen weinen, ist dies rührend; wenn Männer weinen, ist dies erschütternd.

Angesichts dieser drei Argumente stellt sich die „Werteinitiative '93“ als abgehobene, einseitig rational ausgerichtete, unverbindliche Diskussion dar, die allzu rasch zu Zwecken der Selbstrechtfertigung und selbstgerechter Untätigkeit instrumentalisiert werden kann, da in ihr die persönliche Betroffenheit über unsere lebensfeindliche Lebensweise und ein tiefergehendes Verständnis für die Abgründe unseres lieblosen Stils gewaltsamer Fürsorglichkeit und emotionaler Beziehungsunfähigkeit im alltäglichen Umgang mit unseren Kindern fehlen. Friedrich Manz, Kinderarzt,

Dortmund

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