: Memminger Staatsgewalt
Memminger Staatsanwaltschaft filzt Arztpraxis ■ Aus Ulm Klaus Wittmann
Im Umkreis der Memminger Staatsanwaltschaft leben Ärzte gefährlich. Es war kurz vor zwölf Uhr mittags, als in der Praxis des Ulmer Arztes Martin Ernst zwei Kriminalbeamte und ein Staatsanwalt auftauchten und dem völlig verdutzten Mediziner einen Durchsuchungsbeschluß vorlegten. Kurz vor Weihnachten wurden so die Patientenunterlagen der im Juli verstorbenen Katharina Scharpf aus Markt Rettenbach sichergestellt.
Der Fall des leukämiekranken Mädchens, das im Juli diesen Jahres starb, hatte seit September 1991 die Gemüter erregt. Den Eltern war vom Amtsgericht Memmingen auf Antrag der Ulmer Universitäts-Kinderklinik das Sorgerecht entzogen worden, nachdem sie sich geweigert hatten, ihr Kind weiterhin einer Chemotherapie auszusetzen. Erst als Vater Alban Scharpf mit seiner Tochter in die Mayo-Klinik nach Rochester (USA) geflüchtet war, bekamen die Eltern ihr Sorgerecht wieder zurück. Vorangegangen war eine unbeschreibliche Kampagne der Ulmer Klinikärzte, die dem Kind „ohne Chemotherapie nur noch eine Lebensdauer von 100 Tagen“ prognostizierten.
Doch Katharina Scharpf lebte ohne Chemotherapie weiter. Als das Mädchen dann am 21.Juli im Alter von fünf Jahren völlig überraschend starb, leitete die Staatsanwaltschaft in Memmingen ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt ein. Ohne Einverständnis der Eltern wurde die Leiche des Kindes obduziert. „Wir brauchen die Organe noch für weitere Untersuchungen“, erklärt heute lapidar der Leitende Oberstaatsanwalt Peter Stoeckle. Er gibt damit die Organentnahme indirekt zu, obwohl es bislang immer geheißen hatte, es seien lediglich Gewebeproben entnommen worden.
Der Chef der Memminger Staatsanwaltschaft bestätigt auch, daß inzwischen gegen den behandelnden Arzt Martin Ernst wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung ermittelt werde. Deshalb die Praxisdurchsuchung. „Wir haben nichts gefunden“, sagt Staatsanwalt Stoeckle. Kein Wunder, hatte Ernst doch bereits unmittelbar nach Katharinas Tod dem Anwalt der Familie die Krankenunterlagen übergeben. Ein unabhängiger Gutachter sollte beauftragt werden, die Todesursache festzustellen. Ein bislang unmögliches Unterfangen, nachdem die Staatsanwaltschaft sich hartnäckig weigert, die Obduktionsbefunde von den Eltern, dem Anwalt der Familie und dem behandelnden Arzt einsehen zu lassen.
Chemotherapeuten contra alternative Heilmethoden
Staatsanwalt Stoeckle verdächtigt den Arzt, am Tode des Mädchens mitschuldig zu sein. Er begründet diesen Verdacht mit dem bei der Einlieferung in die Memminger Kinderklinik ausgesprochen niedrigen Hämoglobinwert des Blutes. Laut Chefarzt Burghard lag dieser bei 2,5 Gramm je Deziliter. Dies, so Stoeckle, hätte bei korrekten Untersuchungen erkannt werden müssen. Der Staatsanwalt, der bei der Obduktion den Willen der Eltern ignoriert hatte und nicht einmal eine Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts abwartete, sieht darin den Hinweis, „daß bei Dr. Ernst keine regelmäßigen Blutuntersuchungen stattgefunden haben“. Ernst, der sich seit Beginn von Katharinas Behandlung immer wieder massiven Angriffen der Chemotherapiebefürworter ausgesetzt sah, hat sich laut einer eidesstattlichen Versicherung von Katharinas Eltern vorbildlich um das Kind gekümmert.
Die Hämoglobinwerte, so Martin Ernst, hätten sich bei den regelmäßig durchgeführten Blutuntersuchungen seit Ende 1991 ausnahmslos im Normbereich bewegt. Gerade den medizinisch gut informierten Eltern Katharinas wäre eine nennenswerte Veränderung sofort aufgefallen. Denn wenn der Hämoglobinwert sinkt, kommt es zu Atemproblemen, die Pulsfrequenz steigt, der Patient wird apathisch. Genau das Gegenteil sei aber bei Katharina der Fall gewesen, versichern die Eltern. Zum fünften Geburtstag – einen knappen Monat vor ihrem plötzlichen Tod – hat Katharina ein Fahrrad geschenkt bekommen, auf dem sie bis zuletzt jeden Tag gefahren sei. Martin Ernst hat über die offiziellen Untersuchungstermine hinaus mindestens einmal wöchentlich mit den Eltern seiner jungen Patientin telefoniert. „Warum also jetzt dieser Versuch der Staatsanwaltschaft, mir krampfhaft was anhängen zu wollen?“ fragt der Allgemeinmediziner.
Staatsanwalt Stoeckle sagt, zum Ermittlungsverfahren habe keine förmliche Anzeige eines Ärztekollegen geführt. Die „konkrete Information neueren Datums“, auf der seine Ermittlungen womöglich fußen, will er allerdings nicht benennen. Möglicherweise handelt es sich dabei um den von Ernst mehrfach angeforderten Entlassungsbefund des Memminger Kinderklinik-Chefs Rainer Burghard.
Eine Staatsanwaltschaft hat Ärzte auf dem Kieker
Dieser wiederum hatte die chemotherapeutische Zwangsbehandlung immer vehement gefordert und schon 1992 gedroht, die Eltern anzuzeigen, wenn das Kind sterben sollte. Ebenso unerbittlich war seine Haltung gegenüber alternativ behandelnden Ärzten. Und daß die Ulmer Chemotherapeuten nicht ganz ohne Einfluß auf die Memminger Justiz sind, hatte schon der später wieder zurückgenommene Sorgerechtsentzug gezeigt. Desgleichen der Streit um die Obduktion von Katharina Scharpf. Gerade die Memminger Staatsanwaltschaft ist bekannt für ihre Hartnäckigkeit, mit der sie sich um juristisch-medizinische Grenzfälle kümmert.
Ist es ein Zufall, daß die gleiche Staatsanwaltschaft bei den Memminger Abtreibungsprozessen ein Stück deutscher Rechtsgeschichte auf dem Rücken von Hunderten von Frauen geschrieben hat? Nicht umsonst erklären die Eltern von Katharina Scharpf in ihrer eidesstattlichen Versicherung, daß sich nach der Flucht vor der Zwangstherapie außer Martin Ernst kein Arzt bereit erklärte, das Kind zu behandeln. Zu groß war die Angst vor Konsequenzen. Der Ulmer Arzt Martin Ernst muß jetzt mit einem Verfahren auf Entzug seiner Approbation rechnen.
„De facto ist es dann aus mit der freien Arzt- und Behandlungswahl, dann hat die Schulmedizin das Monopol und kein Arzt in diesem Land traut sich mehr an andere Behandlungsmethoden heran“, mahnt die Patientenschützerin Helma Kustermann.
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