: Zwillingsgeschichten
In der „Luchsgeschichte“ resümiert Claude Lévi-Strauss sein Lebenswerk ■ Von Rolf Spinnler
Aus der griechischen Mythologie ist die Geschichte von Castor und Pollux bekannt. Die Dioskuren sind ein ungleiches Zwillingspaar: Zwillinge, weil von derselben Mutter geboren, aber ungleich, weil von verschiedenen Vätern gezeugt – der eine vom Gott Zeus, der andere vom Menschen Tyndareos. Der eine ist sterblich, der andere unsterblich. Die Geschichte der beiden besteht nun in einer allmählichen Aufhebung dieser ursprünglichen Verschiedenheit: Das Bruderpaar, ungleich von Geburt, ist so unzertrennlich, daß es schließlich im Tode gleich wird – gemeinsam teilen sich die Zwillinge Sterblichkeit und Unsterblichkeit. Freundschaft und Harmonie triumphieren über alle Gegensätze.
Auch die Indianer an der Nordwestküste Nordamerikas kennen Zwillingsmythen. Einen davon, die Geschichte von Luchs und seinem Widersacher Coyote, hat der französische Ethnologe Claude Lévi- Strauss zum Thema eines 1991 erschienenen Buches gemacht, das jetzt auf deutsch vorliegt. Lévi-Strauss, der am 28. November seinen 85. Geburtstag feiern konnte, gilt seit „Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft“ (1949) als Begründer einer „strukturellen Anthropologie“. Er hat die „Strukturalismus“ genannte Theorie der Sprachwissenschaft auf die Ethnologie, die Religionswissenschaft und die Mythenforschung übertragen: Die Verwandtschaftsbeziehungen oder die Mythen in sogenannten „primitiven“ Kulturen seien organisiert wie eine Sprache. Wenn die Bedeutung einer Sprache sich tatsächlich allein durch die Beziehungen der Sprachzeichen untereinander ergibt, dann läßt sich auch der Sinn eines Mythos nur erschließen, wenn man die Vernetzungen der einzelnen Motive rekonstruiert. In „Die Struktur der Mythen“ von 1955 hatte Lévi-Strauss das Studium der Mythen mit der Lektüre einer Partitur verglichen: Man muß sie von links nach rechts und von oben nach unten lesen (in der Terminologie der Strukturalisten heißt das: „diachronisch“ und „synchronisch“). Eine endgültige, definitive, „authentische“ Fassung gibt es dabei nicht: Alle Varianten sind gleich „wahr“. Die Ursache für diesen theoretisch endlosen Prozeß der Variation eines Grundmusters sieht Lévi-Strauss darin, daß jeder Mythos einen Widerspruch auflösen soll, der real nicht zu bewältigen ist: Deshalb muß die mythische Erzählung ihn immer aufs neue inszenieren, jedesmal in einer etwas abweichenden Version.
Das grundlegende und nie endgültig lösbare Problem aller Zivilisation ist der Übergang von Natur zur Kultur. In den vier Bänden seiner von 1964 bis 1971 erschienenen „Mythologiques“ hat Lévi-Strauss an einer repräsentativen Auswahl der indianischen Mythologie Nord- und Südamerikas zu zeigen versucht, wie die Mythen diesen Grundkonflikt verarbeiten: als Gegensatz von Rohem und Gekochtem, von Nacktheit und Kleidung, von Inzest und Exogamie. Schon hier fällt auf, daß das Denken der Indianer offenbar eine Vorliebe für Gegensatzpaare hegt, für „binäre Oppositionen“, wie die Strukturalisten sagen. Oder ist es Lévi- Strauss, der Mythenforscher, der alles durch eine dualistische Brille sieht, wie ihm seine Kritiker vorwerfen? Wie dem auch sei – auch in der „Luchsgeschichte“ stößt man auf Schritt und Tritt auf dualistische Begriffspaare. Die ungleichen Zwillinge, Luchs und Coyote, verkörpern dabei genau jene kosmologischen, sozialen und kulturellen Widersprüche, mit denen sich das „wilde Denken“ der Indianer konfrontiert sieht: der Periodizität von Tag und Nacht, Sonne und Mond; dem jahreszeitlich bedingten Wechsel von Nebel und Wind; dem Gegensatz von Jugend und Alter, Eigenem und Fremdem, Indianern und Weißen. Oder das moralische Wechselspiel von „Gut“ und „Böse“: Luchs ist der verkannte Märchenprinz, der sich unter der Tierhaut verbirgt, und Coyote der Intrigant und trickster, wie er noch heute durch manche amerikanische Comicserie schleicht. Man muß die „Luchsgeschichte“ wie eine musikalische Komposition lesen, als „Thema mit Variationen“ – man mag dabei an „Beziehungszauber“ der Leitmotive in Richard Wagners „Ring der Nibelungen“ denken, auf den sich Lévi-Strauss auch schon berufen hat. Der Beginn, der Einstieg ins Thema, wirkt dabei zunächst beliebig: Der Autor greift aus den Mythen der Indianer an der kanadischen Westküste scheinbar willkürlich eine Erzählung heraus und verfolgt dann die Verwandlungen ihrer Motive in immer neue Variationen, bis ein kunstvoll geknüpfter Teppich entsteht – oder eben eine „Partitur“.
Ist hier ein Märchenerzähler oder ein Wissenschaftler am Werk? Die Antwort darauf ist: Beides. Denn Lévi-Strauss will ja gerade zeigen, daß die Weisheit der Mythen der wissenschaftlichen Rationalität nicht unterlegen ist. Das hatte er schon 1962 in seinem Buch über „Das wilde Denken“ behauptet. In der „Luchsgeschichte“ greift er diesen philosophischen Aspekt wieder auf und bietet uns so etwas wie eine Summa seines Lebenswerkes. Damit begibt er sich – gleichsam beiläufig – mitten hinein in die aktuellen Diskussionen um Universalismus, Ethnozentrismus und Multikulturalismus. Ist die westliche Zivilisation „fortgeschrittener“ als alle anderen, können ihre Werte universale Geltung beanspruchen, wie es die Geschichtsphilosophie der Aufklärung behauptet? Oder sind alle Kulturen gleichwertig, wie der Kulturrelativismus meint? Lévi-Strauss fragt am Ende seines Buches danach, wie die Europäer vor 500 Jahren auf die Entdeckung Amerikas reagiert haben: Hat die „Neue Welt“ die ethnozentrische Befangenheit der „Alten Welt“ aufgebrochen oder eher befestigt? Die Greuel der Eroberung und der gewaltsamen Christianisierung sprechen da ein deutliche Sprache. Nur der große Skeptiker und Moralist Michel de Montaigne macht eine Ausnahme; in seinen „Essais“ entdeckt Lévi-Strauss einen Vorläufer für seine These von der Gleichrangigkeit aller Kulturen.
Aber wie reagierten eigentlich die Indianer darauf, von den Weißen entdeckt zu werden? Und siehe da: Während das abendländische Identitätsdenken keine andere Alternative zuließ (und zuläßt) als Christianisierung (Verwestlichung) oder Vernichtung, hielten die Indianer in ihrem dualistischen Weltbild für die Weißen immer schon einen Platz bereit. Der Fremde ist der irreduzibel Andere, der nicht vereinnahmt werden soll und kann. So spannt sich der Bogen zurück zu den Dioskuren: Wo die ungleichen Zwillinge der alteuropäischen Mythologie am Ende gleich werden und damit den abendländischen Triumphzug des Identitätsprinzips begründen, halten die amerikanisch-indianischen Zwillinge auf Distanz und bewahren ihre Unterschiede.
Mit seiner „Luchsgeschichte“ hat Claude Lévi-Strauss nicht nur, als Beitrag zum „Kolumbus-Jahr“ 1992, ein Stück moralischer Wiedergutmachung geleistet. Er hat auch aufs neue in Erinnerung gerufen, welch zentrale Bedeutung der Begriff der „Differenz“ für die ganze strukturalistische und poststrukturalistische Schule besitzt. Verkehrte Welt: Während in Deutschland seit Kriegsende besonders dogmatisch die cartesianische Vernunft beschworen wird und Jürgen Habermas sich immer mehr als Kardinal Ratzinger der altmodernistischen Orthodoxie profiliert, wächst jenseits des Rheins die Kritik an der totalitären Tendenz des abendländischen Identitätsdenkens. Ist es ein Zufall, daß Lévi-Strauss' Bücher neuerdings bei Hanser verlegt werden (der Verlag hat ein Buch mit seinen kunsttheoretischen Essays angekündigt), oder passen sie nicht mehr in den ideologischen Mainstream der „Suhrkamp-Kultur“ hinein? Oder ist das vielleicht ein Zeichen für den Paradigmenwechsel, der sich auch hierzulande vollzieht: weg vom geschichtsphilosophischen Fortschrittsdenken und hin zur Kulturanthropologie? Ethnologie jedenfalls, so hört man, erlebt mit 12.000 eingeschriebenen Studenten an unseren Universitäten einen überraschenden Boom. Und die Geschichte von Luchs und Coyote offeriert uns das Modell einer Kultur, die das Fremde weder – wie die traditionelle Linke – in ein abstraktes Weltbürgertum integrieren noch – wie die Neue Rechte – als das ganz Andere ausgrenzen möchte, sondern als Fremdes in seiner Verschiedenheit bestehen läßt.
Claude Lévi-Strauss: „Die Luchsgeschichte. Zwillingsmythologie in der Neuen Welt.“ Aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen. Hanser Verlag 1993, 290 Seiten, 64 DM.
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