: Zu Beginn des „Superwahljahres“ hat die politische Grämlichkeit ihr höchstes Niveau erreicht. Dennoch braucht es nicht neue Parteien, sondern die Frischzellenkur einer Reformbewegung von unten. Ihre Keime sind schon zu sehen: von Foren und Klubs bis zu Stiftungen und runden Tischen Von Claus Leggewie
Ein Reformprojekt für 94!
Das sogenannte Superwahljahr 1994 – die Verwendung des Superlativs verrät, daß man einen Ladenhüter anpreist – beginnt in größter Mißstimmung und Lähmung. Heute wird in der kritischen Phase, die früher „Wahlkampf“ hieß, eine Art politische Quarantäne verhängt: Die Akteure legen die Geschäfte nieder, Regieren inklusive, und das Publikum erwartet gar nicht, daß noch irgendetwas mit Sachverstand entschieden wird. Die Entpolitisierung ist bis zu dem Punkt gediehen, wo das Publikum am liebsten den kompletten Wahlgang absagen würde. Damit gibt der Souverän sein vornehmstes und immer noch wirkungsvollstes Mittel aus der Hand: Mehrheit ist Mehrheit, und was Majorität wird, bestimmen wir.
Vielerorts mangelt es gar an Kandidaten für das angeblich einträgliche und einflußreiche Amt des Volksvertreters, und wer sich zur Wahl stellt, gilt als Depp oder Diätenschnorrer. Die Aussicht, wählen zu dürfen, beendet nicht den Verdruß, sondern steigert ihn. Niemand scheint etwas zu erwarten, alle befürchten das Schlimmste: einen abgewirtschafteten Kanzler, der weiterregieren muß, statt in die Geschichte einzugehen, eine Große Koalition, die die verkommenen Zustände betoniert, ein rot-grünes oder Ampelbündnis, das auch nichts Neues zu bieten hat, einen Rechtsruck, der das Land unregierbar macht, die Auferstehung einer abgetakelten DDR-Linken, die den „Ballast der Republik“ konserviert. Je mehr man diese Aussichten scheut und sie durch Fernbleiben von den Urnen auszuschließen sucht, desto wahrscheinlicher treten sie ein – das ist die Paradoxie des Nichtwählertums.
Die politische Grämlichkeit hat höchstes Niveau erreicht – auch die Dichter und Denker verabschieden sich aus dem unersprießlichen Geschäft. Dem Scharping könne er nichts abgewinnen, stellte Peter Härtling, ein Prototyp des engagierten Literaten, kürzlich beleidigt fest und zog sich aufs Guter- Mensch-Sein nach Mörfelden zurück. Die neuen Edelfedern des Spiegel haben sich in Denkzonen aufgespenglert, die gewöhnlichen Sterblichen verschlossen bleiben: Weltbürgerkriege, Nationalidentität, Abendlandsdämmerung – was soll nur werden?! 1961 und 1965 forderten viele von ihnen listenweise „Die Alternative“ zu Adenauer und Erhard, 1972 fühlten sie sich wohl in Willys Wahlkontoren, 1980, gegen den „Kryptofaschisten“ Strauß, und selbst 1982, gegen die „Wende“, gab es noch flammende Appelle – und ausgerechnet heute gäbe es nichts mehr zu tun? Auch die damalige Außerparlamentarische Opposition lebt zurückgezogen; sie trauerarbeitet über den Verlust der Utopien und schwärzt Abtrünnige aus den eigenen Reihen im rechthabenden Feuilleton an.
Warum aber anno 1994 politische Abstinenz statt Wahlaufrufe? Wer den Westerwälder und sein Team pauschal für „farblos“ erklärt und die konfusen Sozialdemokraten mitsamt den graugewordenen Grünen schon vorab aufgibt, müßte erst einmal sagen, was an der SPD 1959 oder 1968 eigentlich attraktiver war und was einen Willy Brandt damals, ohne sein späteres Alterscharisma, von den Enkeln unterscheidet? Was läßt Kohls Kabinett erträglicher erscheinen als das von Ludwig Erhard vor 30 Jahren? Und was war an den grünen Aufbrüchen spektakulärer als am schwierigen Prozeß der deutsch-deutschen Einigung heute? Mögen auch die Personen kleiner erscheinen (eine optische Täuschung!), die Aufgaben sind es keinesfalls. Ist die „Bildungskatastrophe“, von der damals vorlaut die Rede war, nicht eher heute Wirklichkeit? Ist eine „ökologische Steuerreform“ weniger dringend als seinerzeit Gleichberechtigungskorrekturen im Eherecht, und warum schlägt die Beseitigung der Verkehrsmisere weniger Funken als die Liberalisierung des Strafvollzugs und vieles andere, was man in verklärender Rückschau mit dem „demokratischen Aufbruch“ von 1968/69 assoziiert? Die damalige Ostpolitik verdiente gewiß intellektuelle Unterstützung (und mancher fellow traveller ging sehr weit dabei), aber mehr als die Schaffung einer neuen europäischen Sicherheit und Zusammenarbeit, der Schutz ethnischer Minderheiten heute? (Für diejenigen, die sich lieber aufs Verhindern kaprizieren: Ein Strauß ante portas von 1980 soll mehr Wachsamkeit erfordert haben als der rechte Mob und seine Führerchen heute?)
Ein notorischer Optimist muß dagegenhalten, woher er seine Hoffnung nimmt und wohin der kleine Sprung 1994 führen soll. Hoffnungsvoll stimmt die idealistische Anfangsbereitschaft, die auf vielen politischen Versammlungen seit 1989 zutage tritt. Diffuser Beteiligungswille („Man muß etwas tun!“) und wachsender Reformdruck („So kann es doch nicht weitergehen!“) enden aber meistens im Katzenjammer oder in Politikerbeschimpfungen. Dem verhältnismäßig hohen Problembewußtsein und weitverbreiteten Änderungsabsichten korrespondieren kaum Problemlösungen und Änderungsmittel. Vier wichtige Transportmittel politischer Reformen sind ausgefallen: Die Parteien – eigentlich die zuständigen Institutionen – vermögen die entstandene „Handlungslücke“ nicht mehr zu schließen, auch wenn Neugründungen jetzt aus dem Boden schießen. Das politische Personal entwickelt keine charismatischen Fähigkeiten mehr – erwachsene Demokraten können auf Lichtgestalten verzichten. Programme, die das „große Morgen“ (oder den baldigen Untergang) versprechen, bewegen auch keinen mehr – und der Parteienabstinenz entspricht schließlich die Stagnation der alten „neuen sozialen Bewegungen“.
Dennoch: Die These von der Politikverdrossenheit stimmt nicht – oder nicht mehr. In der Sphäre, die Parteifunktionäre gern „vorpolitisch“ nennen, sehe ich erfreuliche Ansätze für eine Wiederentdeckung, ja „Erotisierung“ der Politik: Es bildeten sich „unterderhand“ politische Foren, Klubs, runde Tische und Stiftungen, die sich keinem bestimmten Interesse mehr verbunden fühlen (wie noch die Bürgerinitiativen der siebziger Jahre), sondern in Reaktion auf rechtsradikale Umtriebe im Sinne eines abstrakteren Gemeinwohls („Rettung der Demokratie“) selbst zusammenfanden. Ein Beispiel für diese „metapolitische“ Partizipation ist die von Hildegard Hamm-Brücher mit den Initiatoren der Münchener Lichterkette begründete Initiative „Verfassung '93“, die mit wenigen öffentlichen Auftritten und Broschüren mehr Sympathisanten vereinigen konnte, als dann Arbeitsmöglichkeiten gegeben waren.
Solche neuen, jung-bürgerlichen Aufbrüche könnten Keime einer neuen Reformbewegung sein, und der erste Schritt dahin wäre, sie überregional publik und präsent zu machen, um sie aus ihrer vermeintlichen Isolation zu befreien. In ihnen trifft sich der Elan der alten Bürgerinitiativen („Politik in der ersten Person“) mit den von der staatlichen Einigungsprozedur frustrierten verfassungsgeberischen Impulsen („Bürgerforum Paulskirche“) und einem plebiszitären Selbstbewußtsein, das nicht zuletzt an den runden Tischen der späten DDR gewachsen ist. Freie Stiftungen, Zeitungen und Zeitschriften, gemeinnützige Vereine, auch Berufsverbände und Solidaritätsgruppen müssen jetzt dieses fragile, schnell zu entmutigende Netzwerk reißfest machen. Nicht neue Parteien braucht das Land, sondern Frischzellen wie diese, die in die Parteien hineinwirken, sie kontrollieren und reformfähige Kräfte darin unterstützen. Die Wahlkontore 1994 dürfen nicht mehr einer Person oder Partei gewidmet, sondern müssen von der Überzeugung getragen sein, daß Innovationen nötig und kreatives politisches Handeln möglich ist. Die politische Generation des Mauerfalls muß aus dem Schatten der lähmenden 68er- oder 78er- Vorbilder heraustreten.
Vor allem aber muß der aufkommende Bürgerelan politisch „zu futtern“ bekommen – also ein Reformprojekt formulieren. Der Begriff der Reform ist ebenso auf den Hund gekommen wie die Wahlkampfrituale. Jede lausige Gesetzesnovelle und noch der reaktionärste Rückschritt wird zur „Reform des...“ aufgeblasen (Beispiel: das angeblich „reformierte“ Asylrecht). Reformen sind (meist durch Krisen veranlaßte) planvolle Umgestaltungen der sozialen und politischen Gegebenheiten. In Reformprozessen fallen idealerweise mehrere Verbesserungen zusammen: Steigerung des Wirkungsgrads staatlicher Intervention, Vereinfachung der Verwaltung, Dezentralisierung von Macht, Freiheitsgewinne für den Einzelnen, erweiterte Bürgerbeteiligung, Stärkung der politischen Legitimität. Echte Reformen greifen ins ökonomische wie ins politische System ein, sie verändern Werte und Institutionen, sie haben eine parlamentarische und eine „zivilgesellschaftliche“ Dimension. Daran gemessen ist das gegenwärtige Regierungshandeln „Denken gegen die Zukunft“ (Albert O. Hirschmann), und auch die gegenwärtige Opposition ist mehr dem Verhindern und Vermeiden (z.B. von „Sozialabbau“) verpflichtet. Politik heißt Anfangenkönnen. Es wird zuviel schlechten Anfängen gewehrt, wo gute neue gesetzt werden müßten.
Das „Ende der Utopien“ bedeutet keineswegs, daß alles Visionäre die Politik verlassen muß und man nur noch deprimiert Bestände retten und verwalten kann. Ein ideales Beispiel für ein derart vieldimensionales „Reformpaket“ ist die „ökologische Steuerreform“, die Experten und aufgeklärte Politiker seit langem diskutieren und in praktikable Häppchen politischen Durchwurschtelns zugeschnitten haben, die auch dem aufgeweckten Unternehmertum zu denken geben. Der Streit um die Details sei an dieser Stelle zurückgestellt, mir geht es um die allgemeine Wirkung eines solchen Reformpakets: Ökosteuern greifen in zentrale Funktionsbereiche klassischer Politik ein (vor allem die Haushalts- und Finanzpolitik), sie tangieren Kernbereiche von Produktion, Verteilung und Konsum, sie machen die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung realistischer, indem sie bisher nicht erfaßte Kosten besser berücksichtigen; sie leiten erhebliche Verfahrensänderungen bei den Finanzverwaltungen ein, gestalten den Personen- und Güterverkehr neu; sie verteilen Arbeit um und erzeugen neue Beschäftigungsmöglichkeiten. Es ist überzeugend dargelegt worden, daß eine ökologische Steuerreform ohne systemsprengende Eingriffe machbar ist; ihre Finanzierungslasten und -risiken sind nicht größer als die, die bei Fortsetzung der gegenwärtigen Fiskalpolitik, auch im SPD-geführten „Weiter so!“ entstehen.
Benachbarte und damit zusammenhängende Felder einer künftigen Reformpolitik können hier nur aufgelistet werden: ein gerechter Finanzausgleich zwischen Bund, Ländern und Kommunen, um das weitere Abrutschen der Großstädte und Krisenregionen zu verhindern; ein neuer Generationenvertrag, der die aktuellen Bemühungen um eine „Pflegeversicherung“ mit einer sozialen Grundsicherung für alle und einer familien- und kinderfreundlichen Besteuerung verbindet; gesetzliche und tarifliche Regelungen zur Umverteilung der abnehmenden Arbeitszeit, endlich eine inhaltliche Bildungs- und Hochschulreform. Hinzu kommen Materien, die die Tarifparteien anpacken müssen. Nur sie können die fundamentale Gerechtigkeitslücke schließen, die durch die falsche Bewertung von Arbeitstätigkeiten (z.B. beim Pflegepersonal) aufgerissen ist. In dieser unvollständigen Skizze ist kein einziges Projekt, das nur auf einem unerfüllbaren Wunschzettel Platz hätte; auch keines, das nicht in Zeiten der ökonomischen Prosperität und kuturellen Kreativität längst „angedacht“ und von „Querdenkern“ aller Lager angenommen worden ist – von der kürzeren und flexiblen Arbeitszeit bis zum Bürgergehalt –, dann aber in einem vertanen Jahrzehnt liberal-konservativer Besitzstandswahrung und nunmehr im illusionären Nationalgefühl „vergessen“ worden ist. Das Reformprojekt der 90er Jahre kombiniert die großen sozialpolitischen Reformwerke der 50er Jahre mit den Partizipationsansprüchen der 70er und dem ökologischen Pragmatismus der 80er Jahre.
Es gibt also sehr viel zu wählen, im Jahr „Superwahljahr“ 1994, nicht mal das alte Koordinatensystem von Rechts und Links ist ganz außer Kraft. Wohl aber hat die Zäsur von 1989, die einer Epochenschwelle gleichkommt, die Verteilung zwischen Konservativen und Reformern in allen Lagern auf den Kopf gestellt. Es ist immer noch Zeit – und Gelegenheit – für den Wechsel. In den anstehenden Wahlen wird gezählt, ob dafür eine Mehrheit vorhanden ist, die sich zuvor in einer neuen Bürgerbewegung artikuliert hat. Aus den „Lichterketten“ und „Manifesten“ dieser Tage müssen im Wahljahr Prüfsteine werden, die eine wach und selbstbewußt gewordene Bürgerschaft den Damen und Herren Kandidaten vorlegt, die die neue Bundesrepublik vertreten sollen. Jedenfalls wird es „oben“ keine Änderung geben, die nicht zuvor „von unten“ gefordert worden ist.
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