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■ Bosnien im Zusammenhang der universellen KriseNoch sind die Weichen nicht passiert!

Welchen Weg haben wir seit 1989 zurückgelegt! Was wir für einen glänzenden Sonnenaufgang hielten, hat sich als tödliche solare Explosion herausgestellt. Wieder einmal, und weit schlimmer als bei früheren historischen Gelegenheiten, ist ein Völkerfrühling einer neuen Eiszeit gewichen.

Man muß diese Tragödie jenseits der Frage verstehen, wer für Gewalt und Aggression unmittelbar Verantwortung trägt. Es geht um das Ergebnis des gleichzeitig widersprüchlichen und unlösbar zusammenhängenden Prozesses weltweiter Vereinigung und Aufspaltung. Die planetarische Ära hat alle Gesellschaften voneinander abhängig werden lassen. Alle Menschen, wo immer sie leben mögen, stehen heute vor den gleichen Problemen, die die Lösungsmacht der Nationalstaaten überschreiten. Gleichzeitig leben wir in einer Epoche, in der die Staats-Nationen sich sowohl vermehren als auch miniaturisieren.

Warum? Man muß sich den modernen und archaischen Inhalt des Begriffs Nation vergegenwärtigen. Dem „Vaterland“ liegt eine Vater- Mutter-Beziehung zugrunde. Es trägt die Liebe der Mutter in sich, die an die Erde und an das Heim gebunden ist, und die schützende Macht des Vaters, dem man Respekt und bedingungslosen Gehorsam schuldet. Dort, wo die Einflüsse des Stamms, der Großfamilie, ja der Familie überhaupt weiterwirken, bringt das Vaterland einen mythologisch-familialen Zusammenhang hervor, der die „enfants de la patrie“ verbrüdert, auch wenn es unter ihnen keine Verwandtschaft des Blutes mehr gibt.

Die Formel der Staats-Nation hat sich im 19. und 20. Jahrhundert weltweit durchgesetzt. Sie wurde von Völkern aufgenommen, die sich von der Herrschaft großer Imperien befreien wollten. Sie wurde Teil ihrer Identität und ihrer Kultur, das heißt ihrer Vergangenheit, gab ihnen aber ebenso moderne Techniken der Selbstverteidigung, vor allem militärische, an die Hand. Die Idee der Staats-Nation erlaubte es diesen Völkern in einem, ihre Vergangenheit zu erneuern, ihre Gegenwart zu behaupten und sich der Zukunft zu stellen. Aber seit Beginn der 70er Jahre hat sich weltweit eine Krise der Zukunftsgewißheit ausgebreitet. Jetzt und besonders dort, wo die Gegenwart von Furcht und Krankheit gekennzeichnet ist, wendet sich die Vorstellung der Zukunft der Vergangenheit zu – das heißt aber den ethnischen, religiösen und nationalen Wurzeln.

Im postkommunistischen Europa wollen sich heute die Nationalitäten und Ethnien von den großen polyethnischen Einheiten (wie der Ex-Sowjetunion, Ex-Jugoslawien und der Ex-Tschechoslowakei) lösen. Sie streben nach einem eigenen Staat. Aber der große Unterschied ihrer Lage zu der der europäischen Nationalstaaten des Westens besteht darin, daß letztere von Staaten geschaffen worden sind und daß es dort den Nationen gelang, Ethnien zu integrieren, die noch unterschiedlicher waren als im Falle des ehemaligen Jugoslawien. Aber das geschah im Rahmen eines langen, sechs Jahrhunderte währenden historischen Prozesses. Im Gegensatz hierzu schafft heute im östlichen Europa nicht der Staat die Nation, die die Ethnien umgreift, sondern die Ethnie schafft ihren Staat und wird zur Nation.

Jugoslawien hatte sicherlich nicht genügend „historische Zeit“, um eine multiethnische Nation herauszubilden. Aber in einem Teil Jugoslawiens war bereits das multiethnische und multikulturelle Gewebe vorhanden: in Bosnien- Herzegowina. Durch seine schon Jahrhunderte währende Integration verschiedener Ethnien und Religionen war Bosnien dem vorgestellten Modell eines polynationalen Staates bereits nahegekommen.

Wie der Krieg in Jugoslawien zeigt, ist die Bildung ethnisch fundierter Nationen in Osteuropa durch die Erbschaft dreier großer Reiche, des osmanischen, des österreichischen und des russich- sowjetischen, kompliziert worden. Dort hatten sich sehr heterogene Bevölkerungen während eines langen Zeitraums verzahnt. Als nun diese Ethnien zu Nationen wurden und sich ihre offenen Verwaltungsgrenzen in undurchdringliche nationale Grenzen verwandelten, schlossen sie sehr häufig eine oder mehrere ausländische Minderheiten ein, während sich Angehörige der je eigenen Ethnie als Bürger einers anderen Staates wiederfanden. Das Problem vermischter Völkerschaften wandelte sich so zu einem Problem bedrohter und unterdrückter Minderheiten. Ein losgelassener, wilder Nationalismus entwickelte sich auf der Grundlage einer dreifachen Krise: der nationalen, um die es hier geht, der ökonomischen und der politischen. Die zerbrechlichen neuen Demokratien sind dem mehrfachen Angriff durch diese Krisen ausgesetzt. Wilder Nationalismus und diktatorische Gelüste stützen einander. Und die kommunistischen Apparatschiks, die zur Nation konvertiert sind, um ihre Macht zu retten, bringen ihren speziellen Zynismus und ihre Brutalität in diese Mischung ein. So sind die gerechten Hoffnungen des Völkerfrühlings auf Volksherrschaft in siedende nationalistische Hysterien verwandelt worden, in Kriege, deren grausamster hier, in Sarajevo, tobt. Mit Recht sagte Adam Michnik, daß der Nationalismus das höchste Stadium des Kommunismus sei. Und wir können hinzufügen, daß die „ethnischen Säuberungen“ das höchste Stadium des totalen Nationalismus bezeichnen.

Jugoslawien ist zerfallen, Bosnien-Herzegowina zerfällt. Wenn sie nie wirklich existiert hätten, wie von gewisser Seite behauptet wurde, warum mußten sie dann zerhackt, zerschossen und über Massendeportationen zerstört werden? Hier spielen sich gleichzeitig die Tragödie Sarajevos, die Tragödie Bosnien-Herzegowinas, die Tragödie Ex-Jugoslawiens, die Tragödie Europas ab.

Europa hatte sich nach seinem Selbstmord im Zweiten Weltkrieg auf den Weg der Einheit aufgemacht. Ein Anfang zur Vereinigung war von den beiden ehemaligen Feinden Frankreich und Deutschland gemacht worden mit dem Ziel, eine Europäische Gemeinschaft zu schaffen. Gewiß, dieser Prozeß war wegen des „Eisernen Vorhangs“ auf den Westen beschränkt. Zudem stieß er auf zahlreiche politische Hindernisse, weil die Nationalstaaten sich weigerten, ihre Souveränität zu einem kleinen Teil aufzugeben. Der Prozeß hat wirtschaftliche Schleifen gezogen, um die enormen politischen Widerstände zu umschiffen, und hat dann, begünstigt vom wirtschaftlichen Aufschwung der Jahre 1955 bis 1975, zum gemeinsamen Markt geführt. Danach sollte Maastricht zu einem neuen Aufbruch, zu einem politisch vereinigten Europa anspornen. Aber schon das Fehlen einer konföderalen politischen Organisation machte es dem Westen unmöglich, sich den Ländern des Ostens zu öffnen. Der gemeinsame Markt selbst konnte noch blockierten Wirtschaften gegenüber nicht offen sein. Zudem zog der Westen sich angesichts der Wirtschaftskrise auf sich selbst zurück. Er hat seinen kleinen Eisernen Vorhang gegen die Produkte und gegen die Zuwanderer aus dem Osten aufgerichtet.

Und schließlich und vor allem zeigte sich dieses Europa dem Krieg in Jugoslawien gegenüber auf eine niederschmetternde Art ohnmächtig und mit tödlicher Blindheit geschlagen. Es nahm nicht wahr, daß dieser Krieg, vor allem und ganz besonders die Zerstückelung Bosnien-Herzegowinas, das europäische Projekt selbst untergräbt. Und so sehen wir nun, wie sich 1992 bis 1993 in ganz Europa, auch im Westen, gewaltige Kräfte des Zerfalls entfesseln.

Aber noch hat der Zug die gestellten Weichen nicht passiert. Das Schicksal Europas entscheidet sich im Kampf zwischen den Kräften der Zersetzung, des Bruchs, der Explosion von nationalem, ethnischem, religiösem Haß und den Kräften der Solidarität und der Vereinigung. Das Prinzip der Vereinigung ist bei weitem nicht überholt, im Gegenteil, es wird durch diesen Krieg aktuell. Wenn Vereinigungen nicht aufrechterhalten und neu gebildet werden, wird man neuen Schrecken entgegengehen. Die Aufgabe der europäischen Intelligenzija ist es, ja zu sagen sowohl zu den Souveränitäten wie zu den Vereinigungen. Man darf das Recht der Völker, das Recht der Minderheiten, das Recht der Individuen, das Recht Europas selbst, das das Recht der Vereinigung ist, nicht voneinander trennen. Die Aufgabe der europäischen Intelligenzija ist es, der Kriegshysterie zu widerstehen, wo man ein Volk haßt, statt ein System oder ein Regime zu verurteilen. Diese Aufgabe zwingt uns, das Problem Sarajevo in seinen Kontext zu stellen, und das ist der Einbruch des rasenden Ethnonationalismus und Totalnationalismus in die Zukunftskrise.

Der Zerfall Bosnien-Herzegowinas trägt die Ermordung der europäischen Zukunft in sich. Aber noch ist nicht alles geschehen. Man muß alles Mögliche unternehmen, um die multikulturellen Städte, allen voran Sarajevo, zu retten, die Städte, die sich als Städte demokratischer Bürger begreifen, noch Widerstand leisten und sich auch gegen die Kräfte des inneren Zerfalls wehren müssen, die durch die endlose und unerbittliche Belagerung gefördert werden. Und man muß den Frieden ins Auge fassen, den einzigen Weg, der es den demokratischen Kräften, die in Serbien und Kroatien erstickt werden, ermöglicht, wieder zu erstarken. Aber dieser Friede, der von den Großmächten garantiert werden muß, muß selbst für durchlässige Grenzen sorgen, wie es jene der Europäischen Gemeinschaft sind, und neue Vereinigungen vorbereiten. Edgar Morin

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